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       # taz.de -- Schwierige Koalition in Sicht: Regieren ohne Mehrheit
       
       > In Berlin nimmt eine schwierige Koalition den Hut, um einer kaum weniger
       > schwierigen Koalition Platz zu machen. Oder vielleicht auch nicht.
       
   IMG Bild: Diese Bundestagswahl wird wie die vor ihr und davor auch keine deutlichen Mehrheiten bringen
       
       Stabile Koalitionen bildeten einen Eckpfeiler der Konsensdemokratie, auch
       in Deutschland. Dank des Verhältniswahlrechts, das den politischen und
       sozialen Pluralismus gut abbildet, folgte jeder Wahl eine
       Koalitionsbildung, der man gute bis beste Noten geben konnte. Auch auf
       [1][Länderebene sind zeitweilige Regierungsbündnisse] die Regel, in
       Kommunen herrscht ohnehin eine Menge Konkordanz und Proporz. Gleichwohl
       sind Koalitionen nicht sonderlich beliebt.
       
       Dem Zwang zur Einigung haftet das Odium des faulen Kompromisses und der
       Verdacht an, der ominöse Wählerwille werde verfälscht. Das ist vor allem
       der Fall, wenn Wahlgewinner von der Regierungsführung ausgeschlossen
       werden, [2][wie 1969 die CDU/CSU], oder starke Fraktionen a priori nicht
       als Partner in Betracht gezogen werden, [3][wie nun die AfD]. Der „Wille
       der Wähler“ ist indessen kaum zu bestimmen: Die Wähler bekunden in der
       Wahlkabine ihre Präferenz auf der Basis von Parteiprogrammen oder votieren
       wenigstens für ein „kleineres Übel“.
       
       Diese Einzelentscheidungen sollen sich dann auf wunderliche Weise in einen
       Gesamtwillen einfügen, der die eigenen Wünsche einem unerwünschten, im
       Wahlkampf attackierten Partner zuordnet oder entgegenstellt. Friedrich
       Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck konnten ihr Profil noch so sehr
       schärfen, am Tag nach der Wahl müssen sie es verwässern, um überhaupt eine
       Regierung bilden zu können. Die Zeit absoluter Mehrheiten ist vorbei und in
       der [4][US-amerikanischen Präsidialdemokratie] erweisen sie sich als
       geradezu furchterregend.
       
       Die Zeiten sind passé, als sich in einer übersichtlichen
       Dreierkonstellation zwei große Volksparteien der rechten und linken „Mitte“
       eine kleinere Mehrheitsbeschafferin zur Seite nahmen und Koalitionen trotz
       programmatischer Differenzen relativ reibungslos zustande kamen.
       Schwieriger waren sogenannte [5][Elefantenhochzeiten], die die Opposition
       im Bundestag marginalisierten, aber auch Reformen mit großer Akzeptanz
       durchbrachten.
       
       ## Drohen im Bund „thüringische Verhältnisse“?
       
       Was die „kleine“ sozialliberale Koalition 1969 schaffte, konnte die
       Ampelkoalition mit ihrem ökologischen Transformationsvorhaben nicht
       wiederholen. Die Koalition, die „[6][mehr Fortschritt wagen]“ wollte,
       scheiterte an eher weltanschaulich fundierten Unvereinbarkeiten und
       veritablen inneren Feinderklärungen, die beim Publikum den Eindruck
       hinterließen, die „demokratische Mitte“ sei unfähig zu vernünftigen
       Kompromissen geworden. Die Richtlinienkompetenz von Kanzler Scholz wurde
       erst nach dem Bruch simuliert.
       
       Das freie Mandat der Abgeordneten kam erst in der Abstimmung zum Merz’schen
       „[7][Fünf-Punkte-Antrag]“ zur Geltung, als der mit Stimmen der AfD das
       Parlament passierte. Was ist zu tun, wenn nach diesem Sonntag sieben
       Parteien in den Bundestag einziehen und sich eine davon zur Sperrminorität
       aufplustert und „thüringische Verhältnisse“ im Bund eintreten? Erschwert
       wird die Koalitionsbildung durch den Schwund der demokratischen Mitte und
       die am rechten und linken Rand erstarkte Fundamentalopposition.
       
       Vor allem [8][die extreme Rechte] betreibt eine systematische
       Delegitimation der „Altparteien“, die vor allem mit dem Migrationsthema
       Stimmung macht und wachsende wohlfahrtsstaatliche Defizite Einwanderern und
       Flüchtlingen unterschiebt. In Frankreich erlebt man die Totalverweigerung
       der extremen Linken, etwa in der Rentenpolitik Zugeständnisse zu machen.
       Diese Blockade zielt auf das serienweise Scheitern von Premierministern in
       der illusionären Hoffnung auf die Stärkung eines „antifaschistischen“
       Lagers gegen den wahrscheinlichen Fall einer rechtsradikalen Mehrheit in
       der Nationalversammlung und Präsidentschaft Marine Le Pens.
       
       Hier kommt [9][Österreich] ins Spiel. Der vorgezeichnete Weg war, dass eine
       in der Mit-Regierung wie in der Fundamentalopposition immer stärker
       gewordene Ultrarechte die konservative Traditions- und Volkspartei
       übertrifft und ihr die Bedingungen diktiert – ein Menetekel für Deutschland
       2029. Doch es regte sich Widerstand gegen die konservativ gestützte
       Machtübernahme des designierten „Volkskanzlers“ Herbert Kickl, die in
       formaler Betrachtung der Mehrheitsdemokratie unumgänglich schien.
       
       ## Scheu vor temporären Mehrheiten
       
       Und das, auch wenn dies nach dem Muster der Visegrád-Staaten und den
       Vereinigten Staaten in eine Aushöhlung aller anderen Elemente mündete, die
       Demokratien auszeichnen: Gewaltenteilung, freie Presse, kritische Kultur,
       unzensierte Wissenschaft und so weiter, also in eine Tyrannei der Mehrheit
       führt. Was also tun? Wenn antagonistische kleine Koalitionen zur
       Instabilität neigen und die größere Koalition mit Rechtsradikalen
       ausgeschlossen bleibt, wäre es an der Zeit, Lösungen zu ventilieren, die
       bisher vermieden wurden, weil sie angeblich per se zur Instabilität
       beitrugen.
       
       Der österreichische Bundespräsident hat vier Szenarien vorgelegt:
       Neuwahlen, Wiederaufnahme der Sondierungen, eine Experten- oder eine
       Minderheitsregierung. Neuwahlen brächten ein identisches Dilemma,
       Sondierungen ziehen sich in die Länge. Experten mangelt es an Legitimität.
       Mit wechselnden Mehrheiten wollten sich auch deutsche Bundeskanzler und
       Ministerpräsidentinnen erst gar nicht befassen.
       
       Sie scheuen temporäre Mehrheiten, die für Budgets und Einzelgesetze jeweils
       neu zu beschaffen sind, also eine Gesetzgebung aus der Mitte des
       Parlaments. Diese muss auf der Grundlage des freien Mandats der
       Parlamentsangehörigen sichergestellt werden. Das setzt ein hohes Maß an
       politischer Klugheit voraus, die wiederum ausschließt, dass eine
       Negativ-Koalition ständig mit dem Damoklesschwert des Misstrauensvotums
       drohten kann wie aktuell in Frankreich. Doch manchmal kann es besser sein,
       allein zu regieren, als schlecht zu regieren.
       
       24 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwarz-Gruene-Koalitionsvertraege/!5863162
   DIR [2] /Vor-50-Jahren--Brandt-wird-Kanzler/!5631944
   DIR [3] https://www.youtube.com/shorts/TJiuiDKJh5M
   DIR [4] /Donald-Trumps-zweite-Amtszeit/!6059582
   DIR [5] /Grosse-Koalition-besiegelt/!5488151
   DIR [6] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
   DIR [7] /Antrag-gegen-Migration-im-Bundestag/!6062259
   DIR [8] /Lesbische-AfD-Chefin-Alice-Weidel/!6067013
   DIR [9] /Regierungskrise-in-Oesterreich/!6069202
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Leggewie
       
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