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       # taz.de -- „Bülowstraße“ im Grips-Theater Berlin: Das Leben ist ein U-Bahnhof
       
       > Das Grips schickt drei FreundInnen um die „Bülowstraße“ auf Selbstsuche.
       > Als Textgrundlage diente Autor Juri Sternburg das gleichnamige Album von
       > LEA.
       
   IMG Bild: Äußerst zutraulich sind die Großstadtfüchse in der „Bülowstraße“. Musikerin Julia Horváth und Schauspielerin Johanna Meinhard
       
       Kurz vor der Pause ist der U-Bahnhof Bülowstraße von Moos überzogen. Auf
       dem wandgroßen Video breitet sich das grüne Geflecht immer weiter auf den
       Treppen aus, bis der Bahnhof fast darunter verschwindet. Mila wohnt um die
       Ecke. Sie ist jung, vielleicht verliebt, oft betrunken und überlegt, ob der
       Bahnhof sie vermisst, wenn sie nicht da ist. In ihrem Album „Bülowstraße“
       beschreibt die Berliner Popsängerin LEA das Lebensgefühl einer 19-Jährigen.
       
       Oft stellt sie den Liedern kurze Dialoge voran, in denen die Lebensrealität
       ihrer Protagonistin umrissen wird. [1][Das Grips-Theater] hat aus dieser
       Vorlage ein Musical gemacht. So hat der Theaterautor Juri Sternburg aus
       LEAs Texten die Geschichte eines Freundschaftstrios entwickelt. Mila, Timur
       und Yasmin stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden und ringen mit- und
       gegeneinander um die passende Definition vom Sinn des Lebens.
       
       Schon in der Anfangsszene bringt Mila ihre Vorstellung vom wahren Leben auf
       den Punkt und Johanna Meinhard singt: „Ich will nie sein wie ihr … manchmal
       fühl ich mich wie ein Fuchs in der Großstadt …“ Immer wieder krabbeln
       Füchse aus dem Unterbau der Bühne, sie sitzen herum und lassen sich sogar
       von Mila streicheln.
       
       Das sind die drei BühnenmusikerInnen, die, gewandet in fantasievolle und
       gleichzeitig praktische Fuchskostüme (Kostüm: Pierre-Yves Dalka), immer
       wieder ihre von Efeu überwucherte Orchesterecke verlassen und die
       Bühnenplattform tiefenentspannt entern. Nicht selten hat eine von ihnen,
       Julia Horváth, ihre Gitarre mit dabei und kann Johanna Meinhard bei ihrem
       nächsten Song so gleich begleiten.
       
       ## LEAs Songs gewinnen an Tiefe
       
       [2][Sternburgs kurze, prägnante Dialoge] machen komplexe
       zwischenmenschliche Beziehungen sichtbar. Es sind in ihrer Lebensrealität
       sehr konkrete Figuren, die hier gezeichnet werden. Sternburg gibt jeder
       Figur ihre eigene Aufrichtigkeit. Er bettet LEAs Bülowstraßen-Lieder
       organisch in die Textvorlage ein und so entsteht ein ziemlich genialer
       Synergieeffekt: LEAs Songs gewinnen durch die Bühnenerzählung an Tiefe,
       gleichzeitig kommt die Handlung durch die diskrete, genaue Poesie der
       Lieder zu einer emotionalen Essenz, die berührt.
       
       Im Grunde geht es in „Bülowstraße“ zwei kurze Stunden um zwei existenzielle
       Fragen: „Wie soll ich leben?“ und „Wie können wir zusammenleben?“ Neben
       Mila, Timur und Yasmin gibt es Milas On-and-off-Beziehung Jerome, ihre
       dysfunktionalen Eltern und Timurs ersten Lover. Milas Mutter, gespielt von
       Katja Hiller, will weg von ihrem alkoholabhängigen Ehemann und gesteht
       ihrer pubertären Tochter: „Ich brauch mal Zeit für mich. Zeit zu verstehen,
       wer ich bin. Nur weil ich deine Mutter bin, bedeutet das nicht, dass ich
       immer weiter weiß. Ich hab genau so Fragen wie du. Ich weiß genauso so oft
       nicht weiter …“
       
       Sigrun Fritsch und Sönke Ober haben die Bühne mit einer beige-grauen
       Plattform bestückt, die verschiedene Ebenen, Treppen, Bodenklappen und drei
       freistehende Türen hat. Jānis Putniņš projiziert darauf abwechselnd reale
       und nicht reale Videos.
       
       So blickt Johanna Meinhard gleichzeitig von allen Türen ins Publikum, steht
       analog vor ihrem Ebenbild und singt „Brauch nur den Traum, den ich habe.“
       Putniņš Projektionen auf der Bühnenrückwand sind eine starke atmosphärische
       Setzung. Sie verorten das Geschehen immer wieder neu im Seelenort
       Bülowstraße, dessen U-Bahnhof für die Figuren zugleich Zuflucht und
       Aufbruchsort ist. Fritschs ruhige Regie komponiert die SpielerInnen
       harmonisch in den Raum hinein und positioniert sie gleichzeitig
       dramaturgisch zueinander.
       
       Essenziell sind Drums, Keyboard und Gitarre, die Lieder und Handlung
       sinnlich und emotional polstern. Es ist ein Sog, der in die Zuschauerreihen
       schwappt, die Figuren kommen einem in ihrer Suche nach dem für sie
       richtigen Leben nah. Denn im Spiel aller Darstellenden (Berit Vander ist
       erst vor ein paar Tagen für die erkrankte Lisa Klabunde als Yasmin
       eingesprungen!) entsteht eine seltene Wahrhaftigkeit, gespeist von der
       Zuneigung zu denen, die man verkörpert.
       
       Johanna Meinhard und das Ensemble performen die LEA-Songs aus ihrer
       jeweiligen Rolle heraus, was dem Liedtext eine bezwingende Unmittelbarkeit
       gibt. Sängerin Lea-Marie Becker sitzt bei der Premiere im Publikum, ihre
       Fans auch. Das wird klar, als sie beim Schlussapplaus das Mikro in die Hand
       nimmt und mit dem Ensemble zusammen einen Bülowstraße-Song intoniert. Der
       Saal kocht. Die SpielerInnen lächeln. Und dann fährt die U-Bahn nicht am
       Hansaplatz. Das macht nichts. Denn wir haben jetzt Flügel.
       
       24 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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