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       # taz.de -- Abschluss der 75. Berlinale: Für das Leben träumen
       
       > Die Berlinale 2025 ging mit dem verdienten Goldenen Bären für den Film
       > „Drømmer“ von Dag Johan Haugerud zu Ende. Doch die Bilanz fällt gemischt
       > aus.
       
   IMG Bild: Große Freude: Der norwegfsche Regisseur Dag Johan Haugerud am Samstag mit dem Goldenen Bären in Berlin
       
       Manchmal sind die Dinge ganz einfach. Etwa, dass der beste Film im
       Wettbewerb eines Filmfestivals den Hauptpreis bekommt, wie es sich gehört.
       Bei [1][„Drømmer“ von Dag Johan Haugerud], der am Sonnabend bei der
       Berlinale den Goldenen Bären gewann, ist das der Fall. Mit einem Film, der
       ohne Drastik, aufdringliches Muskelspiel oder andere Gimmicks sehr elegant
       und vermeintlich schlicht eine komplexe Geschichte erzählt, die ganz
       gegenwärtig ist und zugleich etwas Klassisches hat.
       
       Johanne (Ella Øverbye), die Hauptfigur, ist eine Gymnasiastin in Oslo. Sie
       besucht nach der Schule Tanzklassen, eine ganz normale Schülerin in einem
       bürgerlichen Umfeld. Mit der Vertretungslehrerin Johanna (Selome Emnetu),
       die Textilkünstlerin ist, erwacht nicht bloß Johannes Interesse am
       Stricken, sondern auch ihre erste Liebe.
       
       Eine Liebe, die sie zunächst nicht richtig zuordnen kann, die sie aber
       immer mehr beherrscht. Johanna gegenüber offenbart sie sich nicht, beginnt
       sich aber nach dem Unterricht privat bei ihr zu treffen. Bis Johanna den
       außerschulischen Umgang mit ihr beendet.
       
       ## Geschichte aufschreiben
       
       Die eigentliche Geschichte des Films beginnt, als Johanne ein Buch über
       ihre Erfahrung schreibt, für sich. Der Großmutter, die Dichterin ist, zeigt
       sie es bald auch, und diese zeigt es Johannes Mutter. Und plötzlich hat
       Haugerud den Schwerpunkt seines Erzählens verschoben oder vielmehr den
       Fokus erst richtig scharfgestellt. Denn von nun an ist das Schreiben als
       Erfahrung das Thema des Films. Hineingeflochten sind die unterschiedlichen
       Vorstellungen der drei Frauengenerationen von Sexualität und Emanzipation.
       
       Mit „Drømmer“ schließt Dag Johan Haugerud seine im vergangenen Jahr mit dem
       gleichfalls auf der Berlinale gezeigten „Sex“ begonnene Trilogie über die
       Liebe ab. „Love“, der zweite Teil, lief danach in Venedig im Wettbewerb. In
       „Drømmer“ gibt sich Haugerud, der selbst auch Schriftsteller und
       Drehbuchautor ist, künstlerisch am direktesten selbst zu erkennen.
       
       Die aus dem Off gesprochenen Erinnerungen Johannes gehören völlig
       selbstverständlich zu diesem künstlerischen Ansatz. Haugeruds Plädoyer, das
       Leben ins Fiktive oder zumindest Literarische zu erweitern, nötigt das
       Publikum sanft mit sehr guten Argumenten. Reicher wird das Leben in jedem
       Fall, selbst wenn das mitunter seinen Preis hat.
       
       ## Unerwartete Ehrung
       
       Betrachtet man allein diese Auszeichnung der 75. Ausgabe der
       Internationalen Filmfestspiele von Berlin, gibt es wenig bis gar keinen
       Anlass, sich um den Stand des Erzählkinos zu sorgen. Krise? Nein. Wobei das
       vor allem eine Frage der Perspektive ist. Auch in anderer Hinsicht wurden
       einige gelungene Filme von der Jury unter dem Vorsitz des Regisseurs Todd
       Haynes gewürdigt. Der Große Preis der Jury für den brasilianischen Film „O
       último azul“ (The Blue Trail) von Gabriel Mascaro jedenfalls ist eine
       unerwartete Ehrung für einen der entspanntesten Filme dieses Wettbewerbs.
       
       In dieser Zukunftskomödie muss die 77-jährige Arbeiterin Tereza (Denise
       Weinberg) altersbedingt ihre Arbeit aufgeben, obwohl sie gesund und
       motiviert ist. Eine Regierungsinitiative zwingt sie dazu, ihre nächste
       Station ist „die Kolonie“. Aus Angst, von dort nicht mehr zurückzukommen,
       unternimmt sie eine Reise auf dem Amazonas, wo sie Zufallsbekanntschaften
       mit freigeistigen Außenseitern macht. Ein „Rivermovie“, wenn man so möchte,
       das im Rhythmus der Biegungen des Flusses fließt.
       
       Ein klassisches Roadmovie hingegen ist „El mensaje“ (The Message) von Iván
       Fund, der den Preis der Jury erhielt. Diese Reise eines Mädchens, das mit
       seinen Großeltern im kargen Wohnmobil durch die weiten Landschaften
       Argentiniens reist, um seine Dienste als Tierkommunikatorin anzubieten, war
       ebenfalls sehr zurückgenommen im Tempo. In seiner positiv gedachten
       Botschaft sicher gut gemeint, enthielt er dafür signifikant hohe Anteile
       von Belanglosigkeit. Warum der Film überhaupt im Wettbewerb landete, bleibt
       eher ein Rätsel.
       
       ## Gewusel einer Großfamilie
       
       Mit vielen Filmen in diesem Jahrgang kann man dennoch zufrieden sein,
       wenngleich nicht im euphorischen Sinn. So ging der Silberne Bär für die
       beste Regie verdient an [2][Huo Meng und seinen chinesischen Beitrag „Sheng
       xi zhi di“ (Living the Land)] über die Transformation des ländlichen Chinas
       zu Beginn der neunziger Jahre. Kunstvoll wirft er einen in das Gewusel
       einer Großfamilie, wählt genau aus, was er zeigt und was nicht, wann die
       Kamera nah bei den Protagonisten ist und wann sie auf Distanz geht.
       
       Ebenfalls angemessen der Silberne Bär für die beste schauspielerische
       Leistung, den Rose Byrne für ihre Hauptrolle in „If I Had Legs I’d Kick
       You“ von Mary Bronstein gewann. Bronsteins Horrorkomödie über den Albtraum
       der Therapeutin Linda, die von der Sorge um ihre kranke Tochter gefangen
       ist, mag in der Tonlage ein Beispiel für ein genreaffines Arthousekino
       sein, dass in seinen Mitteln die Regler absichtlich bis zum Anschlag
       hochreißt und dabei ein Dauerunwohlsein erzeugt, das keine richtige
       Entwicklung kennt und darin auf Dauer ermüdet. Ungeachtet dessen zeigen
       sich die Qualitäten des Spiels von Byrne in den ruhigen Szenen, wenn Linda
       bei ihrem eigenen Therapeuten (Conan O’Brien) auf der Couch liegt.
       
       Neben diesen erfreulichen Preisen gab es diverse zu vernachlässigende
       Kandidaten. Besonders enttäuschend die aus ganz unterschiedlichen
       Blickwinkeln erzählten Familienfilme von Rebecca Lenkiewicz und Johanna
       Moder, Erstere war mit dem unterwältigenden Mutter-Tochter-Drama „Hot Milk“
       angetreten, Letztere mit dem Reproduktionsmedizingrusel „Mother’s Baby“.
       Ameer Fakher Eldins „Yunan“ mit Hanna Schygulla als Pensionswirtin auf der
       Hallig Langeneß wiederum war in erster Linie für seine Inszenierung einer
       Sturmflut auf der Marschinsel bemerkenswert, weniger für seine diffuse
       Exilgeschichte.
       
       ## Ein Kessel Buntes, genügend Highlights
       
       Die neue Intendantin Tricia Tuttle hat damit einen für die Berlinale nicht
       untypischen Wettbewerb zusammengestellt, der als Kessel Buntes im Ergebnis
       genügend Höhepunkte lieferte, um nicht sonderlich zu enttäuschen. Weniger
       überzeugend fällt die Bilanz bei dem von Tuttle neu eingeführten
       Nebenwettbewerb „Perspectives“ aus. Dessen Konstruktion birgt eine
       erwartbare Schwierigkeit, ist er doch Spielfilmdebüts vorbehalten.
       
       Dass sich darunter nicht ausschließlich Meisterwerke finden, belegt etwa
       die Entscheidung für den Preis für das beste Spielfilmdebüt: [3][„El Diablo
       Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja)“ (The
       Devil Smokes (and Saves the Burnt Matches in the Same Box)) des
       mexikanischen Regisseurs Ernesto Martínez Bucio] beobachtet eine kaputte
       Familie, in der die Kinder mit ihrer paranoiden Großmutter von den Eltern
       alleingelassen werden. Dabei lässt er die Möglichkeiten seines Stoffs
       weitgehend ungenutzt. Auch andere Debüts ließen keine markante Handschrift
       erkennen. Womöglich lohnt es sich, das Konzept dieser Sektion zu
       überdenken.
       
       Auch in anderer Hinsicht gibt es Nachholbedarf. Nachdem im vergangenen Jahr
       das Thema Antisemitismus für einen Eklat bei der Abschlussgala gesorgt
       hatte, verlief diese Berlinale oberflächlich betrachtet weniger
       skandalträchtig. Gleichwohl gibt es Anzeichen, dass das Festival bei seiner
       Haltung keinesfalls so neutral und ausgeglichen ist, wie es sich nach außen
       gibt.
       
       ## Politische Kontroversen abbilden
       
       Sicherlich ist es ein gutes Zeichen, dass zwei Dokumentarfilme, [4][Tom
       Shovals „A Letter to David“] und „Holding Liat“ von Brandon Kramer, sich
       mit israelischen Geiseln beschäftigen, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas
       verschleppt wurden. Am Ende ging der Berlinale Dokumentarfilmpreis an
       „Holding Liat“, der im Unterschied zu Shovals Film vor allem politische
       Kontroversen innerhalb Israels abbildet.
       
       Man kann wiederum loben, dass die Moderatorin der Berlinale-Abschlussgala,
       Désirée Nosbusch, bei der Preisverleihung an das Opfer des mutmaßlich
       antisemitisch motivierten Angriffs am Berliner Holocaust-Mahnmal vom
       Freitag erinnerte. Jedoch hat es einen Beigeschmack, dass sich das Festival
       auf seiner Website veranlasst sieht, unter den FAQ, den häufig gestellten
       Fragen, die „Antisemitismus-Resolution“ des Bundestags unter Verweis auf
       die Meinungsfreiheit als für sich nicht bindend abzulehnen.
       
       Dazu passt, dass der Regisseur Jun Li bei der Premiere seines Films
       „Queerpanorama“ einen Brief des Darstellers Erfan Shekarriz verlas, in dem
       laut Presseberichten Wendungen wie die Parole „From the river to the sea …“
       und Kritik am „Siedlerkolonialismus Israels“ vorkamen. Vom öffentlichen Lob
       der antiisraelischen BDS-Kampagne aus dem Munde der mit dem Ehrenbären
       ausgezeichneten Schauspielerin Tilda Swinton ganz zu schweigen.
       
       Wenn das Festival bei diesem Verständnis von Meinungsfreiheit bleibt, muss
       es sich weiter den Vorwurf gefallen lassen, dass es nicht genug tut, um
       seine Verlautbarung „Die Berlinale hat keinerlei Toleranz für
       Antisemitismus“ glaubhaft erscheinen zu lassen.
       
       23 Feb 2025
       
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