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       # taz.de -- Labour-Steuer für private Schulen: Ein Horn in der Suppe
       
       > Die britische Labour-Regierung erhebt Steuern auf private Schulen. Doch
       > das trifft auch Kinder mit Lernproblemen, wie etwa an der Unicorn-Schule.
       
   IMG Bild: An der privaten Unicorn School haben Kinder mit Lernschwierigkeiten eine weitaus bessere Betreuung als an den staatlichen Schulen
       
       London taz | Großbritanniens Privatschulen sind der [1][Labour-Partei]
       schon lange ein Dorn im Auge. Sie stehen aus ihrer Sicht für die extrem
       ungleich verteilten Bildungschancen im Land. Im Wahlkampf 2024 versprach
       Labour, Privatschulen künftig stärker zur Kasse zu bitten. [2][Nach dem
       Erdrutschsieg im Juli] hat die [3][neue Labour-Regierung von
       Premierminister Keir Starmer] geliefert: Seit Januar 2025 müssen die knapp
       2.500 nichtstaatlichen Einrichtungen in England – Schottland hat ein
       eigenes Steuer- und Bildungssystem – auf ihre Gebühren eine 20-prozentige
       Mehrwertsteuer zahlen. Damit sollen künftig jedes Jahr umgerechnet rund 2
       Milliarden Euro zusätzlich in die Staatskasse fließen, in diesem Steuerjahr
       bis Anfang April schon immerhin 554 Millionen Euro.
       
       Bildungsministerin Bridget Phillipson verspricht, die Zusatzeinnahmen in
       die Verbesserung der staatlichen Schulen zu stecken und 6.500 neue
       Lehrerstellen zu schaffen. „Wir sind der Meinung, dass es richtig ist,
       Investitionen in die staatlichen Schulen, dort, wo die meisten auf die
       Schule gehen, zu priorisieren“, sagte Phillipson im Unterhaus.
       
       Auf den ersten Blick sieht das nach klassisch sozialdemokratischer
       Bildungspolitik aus. Schließlich haben die Absolvent:innen von oft
       elitären Privatschulen in England eine fünfmal so hohe Chance, später in
       eine Führungsposition zu gelangen. Dass die rund 620.000
       Privatschüler:innen im Vergleich zu denen auf staatlichen Schulen
       privilegiert sind, zeigen zahlreiche Studien.
       
       Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild.
       Denn neben Eliteschulen wie das berühmte Eton College mit seinen fast
       60.000 Euro Schulgebühren pro Jahr sind auch weniger elitäre Einrichtungen
       von der neuen Mehrwertsteuer betroffen, darunter Sprach-, Montessori- und
       Waldorfschulen, humanistische Gymnasien sowie kleinere religiöse Schulen.
       Und auch Schulen, die sich auf Kinder mit Lernstörungen wie Legasthenie,
       Dyskalkulie, Dyspraxie und ADHS spezialisiert haben.
       
       ## Wenig Ressourcen für lernbehinderte Kinder
       
       Die Labour-Partei lehnt sich damit an ein inklusives Schulsystem an, wie es
       die Unesco 1994 in der Salamanca-Erklärung zur Pädagogik für besondere
       Bedürfnisse festgeschrieben hat. Aber auch bei Labour gibt es Bedenken, ob
       die Regierung ihre Steuerpläne zu Ende gedacht hat. Die
       Unterhausabgeordnete Rachel Maskell etwa betonte, dass viele staatliche
       Schulen derzeit noch viel zu wenige Ressourcen erhielten, um alle Kinder,
       die besonderen Förderbedarf haben, zu unterstützen, falls jetzt
       Schüler:innen, deren Eltern sich höhere Gebühren nicht leisten können, in
       staatliche Schulen wechseln.
       
       Katherine Torrence und ihr Mann können dies nur bestätigen. Ihr
       achtjähriger Sohn, der Name soll in der taz nicht genannt werden, ist
       Legastheniker. Das Gutachten dafür haben die Eltern selbst in Auftrag
       gegeben und bezahlt. Viele Versuche, in London-Islington spezielle
       Sprachförderung für ihren Sohn auf seiner staatlichen Schule zu erhalten,
       waren zuvor gescheitert.
       
       Erst mit dem Gutachten erhielt Torrence dann Zugang zu einem Lernprogramm
       für ihren Sohn – allerdings blieb nahezu die ganze notwendige Unterstützung
       an ihr hängen. Nach insgesamt drei Jahren hin und her sollte ihr Sohn dann
       an eine andere staatliche Schule überwiesen werden, die aber nach eigener
       Aussage den Bedürfnissen ihres Sohnes nur teilweise hätte gerecht werden
       können. „Unser Sohn war todunglücklich, und wir hatten Sorge, dass sich das
       auch auf der neuen Schule nicht ändert“, erzählt Torrence.
       
       ## Staatliche Förderprogramme lehnen oft ab
       
       Aus diesem Grund meldete sie ihn vor zwei Jahren bei einer Privatschule an,
       die auf die Lernschwierigkeiten ihres Sohnes spezialisiert ist. Umgerechnet
       50.000 Euro müssen sie dafür pro Jahr hinlegen. In diesem Jahr werden es
       mit der neu eingeführten Mehrwertsteuer, die die meisten Privatschulen auf
       die Schulgebühren draufschlagen, 60.000 Euro sein.
       
       Die einzige Hoffnung für Katherine Torrence ist ein staatliches
       Förderprogramm, der sogenannte Education Health Care Plan (EHC) für Kinder
       mit Lernschwierigkeiten. Damit würde der Staat die Bedürfnisse ihres Sohnes
       anerkennen und alle Kosten für eine Privatschule übernehmen.
       
       Das Problem dabei: Die allermeisten EHC-Anträge werden erst einmal
       abgelehnt, obwohl die Hälfte der 103.000 Schüler:innen mit
       Lernschwierigkeiten in englischen Privatschulen ihren zusätzlichen
       Förderbedarf offiziell nachweisen können. Die Behörden geben Unsummen dafür
       aus, EHC-Anträge abzuschmettern, nach einem Bericht des Guardian über 120
       Millionen Euro im Jahr. Letztlich sprechen die Gerichte den Kindern aber in
       98,8 Prozent der Fälle die staatliche Hilfe schließlich doch zu. Trotzdem
       kommen nur 7.000 Kinder in den Genuss einer EHC-Förderung, ein Bruchteil
       der Betroffenen.
       
       Auch der Antrag von Torrence und ihrem Mann wurde abgelehnt, der Familie
       bleibt nur der Rechtsweg. Trotz der finanziellen Belastung glaubt Torrence,
       die richtige Entscheidung für ihren Sohn getroffen zu haben. „Heute kommt
       er nach Hause und singt und erzählt uns von seinem Tag, er macht wirklich
       Fortschritte.“ Er habe sogar entdeckt, dass ihm Mathematik liege.
       
       ## Private Unicorn School hat 120 Kinder
       
       Andrew Day ist in Oxford der Direktor einer Privatschule für Kinder mit
       Lernstörungen. Die Unicorn School nimmt gerade mal 120 Schüler:innen auf
       – bei den meisten von ihnen trägt der Staat über das EHC-Programm die
       Kosten. Doch 30 Kinder hätten keinerlei Aussicht darauf, sagt Schulleiter
       Day: „Diese Kinder brauchen klar zusätzliche Förderung.“ Ihre Probleme
       seien aber nicht gravierend genug, als dass der Staat ihre Kosten
       übernähme.
       
       Er hofft auf eine Aufweichung der Mehrwertsteuerregel zumindest für Schulen
       wie seine. „Wir haben keine wohlhabenden Eltern hier“, sagt Day. Er könne
       sich nicht vorstellen, dass die Eltern der 30 Kinder die Kostenerhöhung
       lange tragen könnten, selbst wenn er alles versuche, die Kosten irgendwie
       zu senken oder zurückerstattet zu bekommen. Wegen solcher Auswirkungen
       klagt der Anwalt Paul Conrathe im Auftrag einiger Betroffener gegen den
       Regierungserlass.
       
       „Die Regierung verstößt mit der Mehrwertsteueränderung gegen Artikel 2.1
       und Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention“, sagt Conrathe
       zur taz. Gemeint ist das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung. Die
       britische Regierung gebe selbst zu, dass das staatliche System nicht
       richtig funktioniere, dies belegten zudem zahlreiche unabhängige Berichte.
       Die Entscheidung der Labour-Regierung bedeute, dass mehr Kinder mit
       Förderbedarf in ein kaputtes System gezwungen würden.
       
       Der Dachverein der Privatschulen (Independent School Council) schätzt, dass
       etwa 10 Prozent aller Privatschüler:innen durch die eingeführte
       Mehrwertsteuer nun in staatliche Schulen wechseln. Mancherorts, etwa in
       Surrey, gebe es an den staatlichen Schulen dafür gar nicht genügend Plätze,
       warnt der Verband.
       
       ## Eine „verlorene Generation“
       
       So rückt mit der Kritik an der Schulreform auch die Qualität des
       staatlichen Schulwesens ins Zentrum der Debatte. Ein parlamentarischer
       Ausschuss unter Vorsitz des Abgeordneten Sir Geoffrey Clifton-Brown
       stellte Mitte Januar mit Blick auf die Inklusion von Kindern mit besonderen
       Bedürfnissen gravierende Mängel fest. „Seit Jahren lassen wir unzählige
       Kinder im Stich“, sagte Clifton-Brown. Er rief die Regierung dringend zum
       Handeln auf. Ansonsten drohe den Schulen eine „verlorene Generation“.
       
       Der Ausschuss stellte unter anderem fest, dass die Programme und Hilfen für
       Kinder mit Förderbedarf ein chaotisches System bildeten: voller Bürokratie,
       stark unterfinanziert und dabei gleichzeitig verschwenderisch. Das
       Erziehungsministerium entgegnete, dass es auch Fortschritte gebe, unter
       anderem dank der beschlossenen Investitionen in Höhe von umgerechnet knapp
       2,7 Milliarden Euro pro Jahr, knapp die Hälfte davon für Kinder mit
       Förderbedarf.
       
       Mehr Investitionen für die staatlichen Schulen seien immer begrüßenswert,
       sagt Joseph Mintz vom UCL-Institute of Education. Der Bildungsexperte
       betont aber auch, wie wichtig die Initiativen von Eltern und Organisationen
       seien, die private Schulen gegründet haben, um so speziellen Bedürfnissen
       bestimmter Kinder mit Lernstörungen gerechter zu werden.
       
       Welche Art von Schule besser sei, sei am Ende eine ideologische Frage, so
       Mintz. Labour glaube an ein inklusives Schulsystem. Mintz fragt sich aber,
       ob Privatschulen, in denen die meisten Kinder ein EHC haben und der Staat
       die Kosten trägt, nicht schon längst als staatliche Schule bezeichnet
       werden könnten.
       
       26 Feb 2025
       
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