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       # taz.de -- Ausstellung von israelischer Künstlerin: Ausgeliefert ans Diffuse
       
       > Die Shoah bleibt stets präsent: Das Düsseldorfer K21 zeigt Werke der
       > Künstlerin, Psychoanalytikerin und Friedensaktivistin Bracha Lichtenberg
       > Ettinger.
       
   IMG Bild: Bracha Lichtenberg Ettinger „Euridice- The Graces-Persephone“
       
       Berlin taz | Die Biografie von Bracha Lichtenberg Ettinger liest sich auf
       gespenstische Weise exemplarisch. Denn in ihr fügen sich in bitterer
       Konsequenz Geschichte und künstlerisch-intellektuelle Entwicklung zu einer
       beinahe romanhaften Logik. Es ist eine Biografie, auf der das Gewicht der
       Welt tonnenschwer lastet.
       
       Bracha Lichtenberg Ettinger amalgamiert Psychoanalyse mit
       [1][feministischem Aktionismus und Kunst] und arbeitet sich seit vier
       Jahrzehnten an den immergleichen Motiven ab, die Zeugnisse eigener und
       kollektiver Traumatisierungen sind.
       
       Die deutschen Wurzeln der 1948 in Tel Aviv geborenen Künstlerin reichen
       zurück bis ins 15. Jahrhundert, die meisten der Verwandten von BRACHA, wie
       sie sich als Künstlerin nennt, wurden während der Shoah ermordet. Ihren
       Eltern gelang die Flucht ins damals britische Palästina, wo sie wenige
       Wochen vor der Staatsgründung Israels zur Welt kam.
       
       Als Kind habe sie kaum gesprochen und ohne das Malen wohl nicht überlebt,
       sagt BRACHA in einem der Interviews vor der Eröffnung ihrer ersten großen
       Werkschau in Deutschland, die in der Beletage des [2][Düsseldorfer K21
       einen Überblick bietet] von frühen bis zu aktuellsten Arbeiten.
       
       ## Innehalten und trauern nach 7. Oktober 2023
       
       In der internationalen Kunstwelt ist BRACHA seit langer Zeit präsent, sie
       stellte unter anderem mehrfach im Centre Pompidou in Paris aus. Hierzulande
       sorgte sie bislang vor allem damit für Aufmerksamkeit, dass sie [3][im
       Herbst 2023 die Findungskommission der Documenta 16 demonstrativ verließ].
       Man habe ihr „keine Wahl gelassen“, gab sie in einem FAZ-Interview zu
       Protokoll.
       
       Ausgerechnet fünf Tage nach dem Hamas-Massaker war damals eine Sitzung der
       Kommission angesetzt und Ettinger hatte darum gebeten, diese Sitzung zu
       verschieben: [4][„Mir ging es darum, innezuhalten, zu trauern“,] wurde die
       Künstlerin zitiert, die sich für eine friedliche Zweistaatenlösung
       einsetzt.
       
       Das Trauma der Shoah ist eines ihrer Lebensthemen, die nach wie vor
       praktizierende Psychoanalytikerin ist als Künstlerin Autodidaktin, erste
       Arbeiten zeigte sie bereits 1982 in Paris, für die sie eigene Techniken
       entwickelt hatte: Sie legte Fotografien oder Buchseiten auf einen
       Fotokopierer, unterbrach aber den Belichtungsvorgang, indem sie den
       Kopierer öffnete und die unfertige Kopie mit Tusche, Öl und der Asche des
       noch nicht fixierten Tonerpigments übermalte.
       
       Gute zehn Jahre später begann sie, mit Öl auf Leinwand zu malen. Nach wie
       vor mischt sie dem Öl Asche zu und braucht mitunter Jahre, um immer wieder
       neue Schichten aufzutragen sowie feine Linien und winzige Punkte.
       
       Motive zugrunde: Historische Fotos ihrer eigenen Familie im Ghetto von
       Łódź, Fotos der Olympiade von 1936, frühe deutsche Luftaufnahmen von
       Palästina, aufgenommen während des Ersten Weltkriegs, und das Foto einer
       Massenerschießung von Frauen und Kindern durch die Nazis 1942 in der
       Ukraine. Der Blick einer der Frauen auf den Fotografien wird dabei zum
       herausgehobenen Leitmotiv, ein Augenpaar, das sich auf zahlreichen der
       insgesamt 80 ausgestellten Arbeiten wieder und wieder findet.
       
       Andere Arbeiten zeigen wabernde, psychedelische Strukturen, aus denen sich
       bei genauerem Hinsehen nackte Körper herausschälen, seltsame Zwischenwesen
       zwischen Engeln und Lichtgestalten scheinen sich zu formieren, aber die
       Umrisse bleiben durchlässig, diffus. Das Farbspektrum beginnt bei den
       frühen, mitunter winzig kleinen Arbeiten in dunklen Erd- und Brombeer-Tönen
       und hellt sich im Laufe der Jahre immer mehr auf.
       
       Im zentralen Raum der Beletage gibt Tageslicht den leuchtenden Rottönen von
       Rosa über Orange bis Lila ihrer neuesten Arbeiten irritierende Präsenz. Man
       könnte auch einen optischen Zuckerschock attestieren, denn ohne das Wissen
       um die darunterliegenden und zur Unkenntlichkeit übermalten Bilder wirken
       die Arbeiten in ihrer optimistischen Farbigkeit heiter, gelöst und streifen
       verstörend dekorativ sogar furchtlos den Kitsch.
       
       Kurator Kolja Reichert hat für BRACHAs optische Zwischenwelt eine griffige
       Formel parat: „Sie hat ihre Malerei niemals der Figuration oder der
       Abstraktion ausgeliefert.“ Material für ihre Arbeiten sammelt sich nach wie
       vor in Notizbüchern, die sie in selbst bestickte und mit Kordeln verzierte
       Stoffe in den von ihr geliebten Rottönen einnäht. Auch sie sind in Vitrinen
       ausgestellt, aufgeschlagen sind spontane Skizzen mit kalligrafisch
       gesetzten, teils hebräischen Buchstaben. Nicht zufällig aufgeschlagen ist
       eine Seite, auf der zu lesen ist „Stop bombing Gaza“.
       
       Die Titel der diffusen Ölmalereien wie Medusa, Eurydice, Helena oder Rachel
       verweisen auf Mythisches, Biblisches und feiern das Weibliche, das
       Mütterliche als allheilendes Prinzip. Bezüge auf jüngere Historie, auf
       katastrophische Gegenwart und die Kontinuität der Gewalt lösen sich so auf
       in mythische Distanz.
       
       Je jünger die Arbeiten, desto häufiger bevölkern Engelsgestalten ihre
       Bildwelt: „Angel of Carriance“ lautet die dafür geschaffene Wortschöpfung
       aus „care“ (Fürsorge) und „carry“ (Tragen). Das ist zutiefst human, penibel
       gearbeitet und gut gemeint. Wirklich berührend jedoch sind die frühen, sehr
       kargen Arbeiten.
       
       6 Mar 2025
       
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