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       # taz.de -- Politik und Glaubwürdigkeit: Avanti, Dilettanti!
       
       > Berufspolitiker machen gerade keine gute Figur, Unprofessionelle können
       > das von Natur aus besser. Ein Plädoyer für mehr Dilettantismus in der
       > Politik.
       
   IMG Bild: Seifenblasen fliegen vor dem Kanzleramt in Berlin: Schaumschlägern, Kleinkünstlern und Spinnern eine Chance geben
       
       Nein, ich will jetzt nicht über [1][den Wahlausgang] sprechen. Nix, nada,
       no way. Sondern über philosophischen, künstlerischen und politischen
       Dilettantismus und was das mit einer lebendigen Demokratie zu tun hat. Zwei
       unserer gehassliebten Vordenker, Goethe und Schiller, haben sich einst über
       den Dilettantismus ausgetauscht – das war allerdings vor der
       technizistischen Effizienzaufladung des Begriffs und für ein Bürgertum, in
       dem das Dilettieren als durchaus akzeptabler Nachweis der Kultiviertheit
       galt. Die zwei waren wohl so von sich und ihrer Sendung überzeugt, dass sie
       einen ganzen Katalog von Menschen aufstellten, die sich tunlichst nicht mit
       der Literatur befassen sollten:
       
       Nachahmer: Der Nachahmer ist in erster Linie ein Nachzeichner der
       Wirklichkeit, „recht behaglich kann uns das Werk nicht machen, denn es
       fehlt ihm die Kunstwahrheit als schöner Schein“. Unter die Nachahmung fiel
       übrigens auch das Fertigen von Scherenschnitten, was in dieser Zeit eine
       sehr populäre bürgerliche Kulturtechnik war – besonders bei Frauen. Der
       Verdacht, dass die geniale Kunstwahrheit männlich und der nachrangig nette
       Dilettantismus weiblich konnotiert waren – oder sind –, ist wohl nicht von
       der Hand zu weisen. In der Politik ist es vielleicht jemand, der genauso
       sein möchte wie ein anderer, nur noch mehr davon. Ein Nacheiferer im
       politischen Idolismus.
       
       Imaginanten: Sie führen die Kunst über ihre Grenzen hinaus ins Unbestimmte
       und Unbegrenzte, wodurch die Kunst von ihrer eigentlichen Mitte entfernt
       wird. Heute nennt man das wohl „Spinner“, „Utopisten“, „Visionäre“, die
       nach einem Wort von Helmut Schmidt zum Augenarzt, aber nicht in die Politik
       gehören.
       
       Charakteristiker: Sie gehen abstrakt an die Kunst heran und beschränken
       damit die Kunst selbst. Charakteristiker pochen auf die Einhaltung von
       Regeln und Rückbindungen. Im Gegensatz zur Entgrenzung der „Imaginanten“
       achten sie streng auf die Formen und können durchaus hartnäckige
       Kontrolleure sein.
       
       Undulisten: Sie stehen der Kunst mit gleichgültiger Anmut gegenüber und
       schaffen seichte, nichtssagende Werke. Undulisten sind so in die Form
       verliebt, dass ihnen der Inhalt fast schon egal ist. Derber nennt man so
       etwas Schaumschläger.
       
       Kleinkünstler: Sie schaffen Miniaturen und sind als negativ anzusehen, wenn
       sie sich den Nachahmern nähern und ihr Werk nicht in eine Einheit bringen
       können. In unseren Breiten nennt man mittlerweile [2][Kleinkunst] das, was
       nicht mit gewaltigen Soundanlagen, eigenen Marketing- und Rechtsabteilungen
       und ohne den Anspruch auf Superlative daherkommt, politisches Kabarett zum
       Beispiel.
       
       Skizzisten: Sie fördern eine Einseitigkeit in der Kunst, indem sie nur den
       Geist und nicht den Sinn ansprechen. Künstler dieser Art können nur
       skizzieren, jedoch nie vollenden. Sie haben wohl tolle Ideen, aber nicht
       die Kraft, diese auch gegen reale Widerstände durchzusetzen.
       
       All das also sind Dilettanten, die allesamt ihre Vorzüge und
       Beschränktheiten haben gegenüber den Professionals, die das ganze Feld
       überblicken, vorausschauen, das Nahe wie das Ferne gleichermaßen beachten –
       und stets die Theorie aus der Praxis und die Praxis aus der Theorie
       gewinnen. Doch in Wahrheit muss ein solcher Professional nicht nur
       gegenüber einem Außen (alles, was nicht in sein Fachgebiet fällt) und nach
       innen (das Einzelne, das eben immer auch noch mehr ist als Teil des Ganzen)
       blind und taub werden. Er oder sie sucht, nachdem unser Glauben an die
       Originalgenies doch so seine Dellen bekommen hat, „Berater“, die noch
       spezialisierter und daher noch betriebsblinder sind: „Experten“, die
       Karikatur des Professional.
       
       ## Die Arroganz der professionellen Innenwelt
       
       So also entfernt sich ein System – Philosophie, Kunst, Technologie, Politik
       – vom Rest der Welt. Die Arroganz der professionellen Innenwelt geht oft so
       weit, dass die Pose wichtiger als das Ergebnis ist. So entsteht zum
       Beispiel die Figur des Politikers und der Politikerin, die in ihrem Job
       dilettantischer vorgehen, als es je bei echten Dilettanten vorstellbar
       wäre. Die demokratische Rückkopplung realisiert sich nur noch als
       Echokammer. Die Professionals reden, und wir applaudieren, murren oder
       verkrümeln uns.
       
       Da fehlt etwas! Es fehlt unsere echte Beteiligung. Man mag dafür Formen und
       Bezeichnungen finden – Bürgerräte, Zukunftsräte, Mitbestimmung –,
       entscheidend ist, dass neue Formen der Beteiligung gefunden werden müssen,
       die das postdemokratisch miese Verhältnis von Produktion und Konsumenten
       von Politik aufhebt. Statt uns zu umwerben wie Käufer von Brotaufstrichen,
       statt uns zu „füttern“ mit Slogans, Mems und [3][Versprechungen] müssen die
       demokratischen Politiker und Politikerinnen die Räume der Macht für uns
       Dilettanten öffnen. Nicht so, wie man eine Bühne öffnet, sondern so, wie
       man eine Werkstatt öffnet. Es muss von beiden Seiten klar sein: Die Politik
       ist zu wichtig, um sie allein den Berufspolitiker*innen zu
       überlassen!
       
       In der Kunst, in der Philosophie, in den Wissenschaften waren es immer
       Dilettanten, die neue Impulse gaben, wenn die Professionals mal wieder
       festgefahren waren. Wenn man es ernst meint mit der Rettung der Demokratie
       und klar erkennt, dass die Berufspolitiker in ihrem derzeitigen Zustand
       dazu nicht in der Lage sind, während die Feinde der Demokratie nur zu gut
       gelernt haben, Angst, Hass, Hetze professionell zu produzieren und zu
       verbreiten, dann bleibt nur eins: Mehr demokratischen Dilettantismus wagen!
       Mehr Imaginäres, Skizzenettahaftes, Charakteristisches, Elegantes,
       Essayistisches und vielleicht Begeistertes in die Politik.
       
       Dilettanten sind in aller Regel nicht perfekt. Aber es steckt in der
       Herkunft des Wortes: Dilettant*innen sind Menschen, die das, was sie
       machen, mit Freude, Begeisterung und Liebe tun. Dilettanten machen
       Professionals nicht überflüssig. Aber sie machen sie demokratischer.
       
       27 Feb 2025
       
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