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       # taz.de -- Teilhabe und Eingliederungshilfe: Nichts über uns – ohne uns
       
       > Vor fünf Jahren wurde die Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit
       > Behinderung eingeführt. Doch wie steht es in Berlin um die Umsetzung?
       
   IMG Bild: Veronika Gräwe leidet an dissoziativen Krampfanfällen und wünscht sich eine persönliche Assistenz
       
       Berlin taz | Veronika Gräwe sitzt an einem Tisch im Café der
       Volkswagen-Universitätsbibliothek in Charlottenburg und isst zu Mittag. Es
       ist 13 Uhr, Stoßzeit in der zentralen Büchersammlung von TU und UdK. Sie
       sieht, wie ein älterer Mann an der Fensterfront seine Hand an die Scheibe
       stützt. Langsam lässt er sich auf einen Stuhl nieder, sein Gesicht ist
       schmerzverzerrt. Als er sitzt, wendet er sein Gesicht ab, als ob er seine
       Schmerzen verbergen will …
       
       Veronika Gräwe weiß, was es bedeutet, wenn der Körper nicht das tut, was
       man will. Sie hat dissoziative Krampfanfälle. Ihr Körper verkrampft, wird
       steif, erschlafft – unvermittelt, ohne Vorwarnung. Einmal erleidet sie
       einen Anfall in der Dusche. Sie schafft es gerade noch, den Hausnotruf zu
       betätigen. Doch als der kommt, liegt sie bereits eine halbe Stunde
       eingeklemmt in einer ungünstigen Position und kann sich nicht bewegen. Ein
       anderes Mal krampft sie draußen, sackt auf der Straße zusammen, das Zucken
       hört nicht auf und sie wird ins Krankenhaus gebracht.
       
       Obwohl fast 8 Millionen Menschen in Deutschland anerkannt schwerbehindert
       sind, davon rund 320.000 mit einer seelischen Behinderung, spielen ihre
       Rechte im Wahlkampf kaum eine Rolle. Stattdessen wird der Begriff
       „psychisch krank“ zunehmend mit Gewalttaten in Verbindung gebracht. Dabei
       zeigen Studien, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen weitaus häufiger
       Opfer von Gewalt werden, als dass sie selbst Täter sind.
       
       Fast 16 Jahre ist es her, dass Deutschland die
       [1][UN-Behindertenrechtskonvention] unterzeichnet hat. Seitdem wurden
       zahlreiche gesetzliche Anpassungen zur Förderung von Inklusion und Teilhabe
       vorgenommen. 2020 wurde die Eingliederungshilfe ins Sozialgesetzbuch
       überführt. Sie umfasst seitdem neben den Bereichen Arbeit und
       Rehabilitation auch Leistungen zur Bildung und sozialen Teilhabe.
       
       ## Sie schreibt an ihrer Dissertation
       
       Veronika Gräwe ist Doktorandin der Theologie. Im Mai 2023 lebt sie von
       einem Stipendium und bereitet gerade einen Lehrauftrag vor. Sie schreibt
       derzeit an ihrer Dissertation, hält Vorträge – und geht zum Boxen. Als eine
       von mehr als 300.000 schwerbehinderten Personen in Berlin erhält sie
       Unterstützung durch die Eingliederungshilfe. Sie lebt in einem betreuten
       Einzelwohnen, unterstützt von einem Träger.
       
       Als sich die Anfälle häufen, krampft sie immer wieder in der
       Öffentlichkeit. Sie erlebt, wie Passanten ihr ins Gesicht schlagen, weil
       sie denken, sie müssen sie zu Bewusstsein bringen. Auch manche
       Rettungskräfte sind schlecht ausgebildet, verwechseln ihre Krampfanfälle
       mit Epilepsie. Studien belegen eine erhöhte Sterblichkeit bei Menschen mit
       dissoziativen Anfällen – nicht durch die Symptome, sondern durch unnötig
       invasive Behandlungen aufgrund von Unwissenheit.
       
       Veronika Gräwe traut sich ohne eine Begleitung, die weiß, wie man in
       solchen Situationen handelt, nicht mehr allein auf die Straße. Sie wendet
       sich an das Sozialamt Mitte und bittet um Informationen für eine ständige
       Begleitung. Doch statt Gräwe zu beraten, kontaktiert die Mitarbeiterin beim
       Sozialamt den sozialpsychiatrischen Dienst sowie ihren Träger, um eine
       Erhöhung des Hilfebedarfs zu prüfen. „Sie haben mich nicht in die Gespräche
       eingebunden. Es wurde über mich, nicht aber mit mir gesprochen“, sagt
       Gräwe. Nach drei Wochen erhöht das Amt schließlich ihren Hilfebedarf um 90
       Minuten pro Woche.
       
       Gräwe wünscht sich jedoch eine [2][persönliche Assistenz]. Auch ihre
       Psychotherapeutin und der Träger sprechen sich dafür aus. Ihr Antrag darauf
       wird sowohl vom Sozialamt als auch vom Landesamt für [3][Gesundheit und
       Soziales (Lageso)] abgelehnt. Sie sei aufgrund ihrer seelischen Behinderung
       nicht in der Lage, Assistenzkräfte anzuleiten, heißt es. Gräwe kann das
       nicht nachvollziehen: „Ich kann meine Dissertation schreiben, aber keine
       Assistenz anleiten?“
       
       ## Im Ermessen der Sozialämter
       
       Laut dem Wunsch- und Wahlrecht im Sozialgesetzbuch können Menschen mit
       Unterstützungsbedarf selbst entscheiden, welche Hilfe sie in Anspruch
       nehmen und von wem. Doch ob Wünsche als „angemessen“ befunden werden, liegt
       letztlich im Ermessen der Sozialämter. Und die sollen verhältnismäßig,
       wirtschaftlich und sparsam handeln.
       
       Die [4][Eingliederungshilfe] ist eines der Felder, in denen Finanzsenator
       Stefan Evers (CDU) im Zuge seiner Sparpläne „jeden Stein umdrehen“ will.
       Laut Evers kostet sie Berlin 30 Prozent mehr als andere Bundesländer. Was
       er nicht sagt: Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband sind die Kosten im
       Vergleich zu den anderen Stadtstaaten Bremen und Hamburg sogar niedriger.
       
       Eine Prüfung der Sozialämter, die sicherstellt, dass der
       Gleichbehandlungsgrundsatz nicht wegen Sparzwängen oder anderen Gründen
       hintergangen wird, gibt es nicht. Im Fall von Veronika Gräwe heißt es, dass
       die Teilhabeeinschränkung, so steht es in den Akten, nicht von
       ausreichendem Gewicht sei. Ist ihr Wunsch, die Bibliothek zu besuchen,
       Sport zu treiben oder einfach spazieren zu gehen, also zu viel verlangt?
       Wenn das nicht möglich ist, lebt sie dann wirklich ein gleichberechtigtes
       Leben zu einer nicht behinderten Person?
       
       Ein weiteres Problem ist, dass psychische Beeinträchtigungen oft weniger
       ernst genommen werden als körperliche Leiden. Philine Senf-Beckenbach,
       Professorin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Charité
       Berlin, forscht zu dissoziativen Krampfanfällen und hat Menschen wie
       Veronika Gräwe begleitet. „Durch diese Hierarchisierung wird die Echtheit
       psychischer Schmerzen infrage gestellt“, sagt sie. Während die Schmerzen
       einer Krebserkrankung selbstverständlich anerkannt werden, würden
       psychische Leiden häufig nicht ernst genommen. „Das zieht sich natürlich
       auch durch die Institutionen“, sagt sie.
       
       ## Sie braucht professionelle Unterstützung
       
       Auch Dana, die nicht mit ihrem vollen Namen in der Zeitung stehen möchte,
       bekommt wegen ihrer seelischen Behinderung Eingliederungshilfe. Die
       hochgewachsene Frau leidet an Depressionen und lebt in einer Wohnung eines
       Berliner Trägers. Seit acht Jahren hat Dana Hilfebedarfgruppe 4.
       
       In heftigen Phasen ihrer Depression werden Dinge, die selbstverständlich
       erscheinen, undenkbar. „In solchen Situationen brauche ich professionelle
       Unterstützung, damit ich nicht völlig absacke.“ Das können Telefonate sein,
       praktische Handreichungen, konkrete Lösungen für spontan auftretende
       Belastungen. Bei einigen Sozialarbeiter*innen erlebt sie das, andere
       würden es ihr verweigern und unrealistische Erwartungen stellen, sagt sie.
       Das führe zu Hemmungen, Angst. Dazu, dass sich ihr Gesundheitszustand
       verschlechtert.
       
       Als Dana eine schlechte Phase hat, möchte sie ihren Hilfebedarf erhöhen.
       Dabei kommt heraus, dass ihr Träger monatelang weniger Leistungen erbracht
       hat, als vom Amt bezahlt wurden. Dana schildert den Fall dem Sozialamt
       Mitte.
       
       Doch statt den Träger zur Verantwortung zu ziehen, sei sie beim nächsten
       Termin mit dem Träger und dem Sozialamt gefragt worden, warum sie ihre
       Ziele nicht erreicht hat. Über die fehlende Leistungserbringung wird erst
       gesprochen, als sie erneut darauf hinweist. Eine offizielle Entschuldigung
       erhält sie nie.
       
       ## Oft bleibt nur der Rechtsweg
       
       An einem verschneiten Januarabend in Mitte stehen Dana, Veronika Gräwe und
       weitere Menschen mit Behinderung im Foyer des Abgeordnetenhauses. Catrin
       Wahlen, inklusionspolitische Sprecherin der Grünen, hat sie eingeladen, um
       ihre Anliegen in den Gesundheitsausschuss einzubringen. Besonders die
       Pflegebedürftigkeit werde oft auf körperliche Beeinträchtigungen
       beschränkt, während seelische Beeinträchtigungen nicht genügend
       Berücksichtigung fänden, kritisiert Wahlen. Betroffenen bleibe oft nur der
       Rechtsweg, um Veränderungen durchzusetzen. Dabei hätten insbesondere
       Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen unter Umständen weniger
       Ressourcen.
       
       Sowohl in der Eingliederungshilfe als auch in der Gesundheitspolitik müsse
       anerkannt werden, dass Menschen Beeinträchtigungen haben. „Ob das jetzt
       eine physische Barriere ist oder eine seelische, hat keine Relevanz.“
       Gesetzliche Regelungen wie das Bundesteilhabegesetz würden auf Landesebene
       jedoch nicht immer proaktiv umgesetzt, kritisiert Wahlen.
       
       Eine Person aus der Gruppe fehlt. Sie schreibt, sie sei „ans Bett gepinnt“
       und schaffe es nicht. Auch bei ihr haben Treffen zwischen Träger und Amt
       ohne ihr Beisein stattgefunden, später wurde ihre Betreuung einfach
       beendet, ohne dass sie an einen anderen Träger vermittelt wurde. Seither
       halten ihre Depressionen sie in der Wohnung gefangen.
       
       Veronika Gräwe kennt das, lange ging es ihr ähnlich. Als sie im September
       2023 einen Termin in einer Ambulanz für dissoziative Störungen vereinbart,
       heißt es vom Träger, dass niemand sie begleiten kann. Dabei ist das in
       ihrem Behandlungs- und Rehabilitationsplan vereinbart. Als Gräwe sich
       beschwert, werden ihr kurz darauf zweimal hintereinander Begleitungen zu
       Ärzten und Therapeuten abgesagt. „Dann kam zwei Wochen niemand.“
       
       ## Allein und unterversorgt
       
       Wenn der Sozialstaat versagt, springen oft die Familien ein. Doch nicht
       alle haben eine Familie, Veronika Gräwe ist in der Jugendhilfe
       aufgewachsen. Viel zu lange bleibt sie allein und unterversorgt. Sie kann
       sich kaum selbst versorgen, nicht mehr allein auf die Toilette gehen, nässt
       sich ein. Wäsche voller Urin häuft sich an.
       
       Einmal hilft ihr der Rettungsdienst nach einem Anfall ins Bett, als er sie
       zudecken will, findet er keine einzige trockene Decke. „Meine Würde schläft
       in Pisse“, postet Gräwe auf Instagram – dazu ein Bild ihres uringetränkten
       Bettlakens.
       
       Veronika Gräwe legt ihre Gabel zur Seite. Heute ist sie hier in der
       Universitätsbibliothek. Die Anfälle sind weniger geworden. Aber es war ein
       langer Kampf. Bis geklärt ist, wer die persönliche Assistenz zahlt – das
       Sozialamt oder das Lageso –, hat ihre Anwält*in über eine einstweilige
       Anordnung erwirkt, dass sie rund um die Uhr Begleitung hat. Alle drei
       Monate muss sie erneuert werden. „Was, wenn ich nicht studiert hätte?“,
       fragt Gräwe. „Wenn ich keine Anwält*in hätte organisieren können?“ Sie
       nimmt ihre Gabel wieder in die Hand. Doch das Essen ist längst kalt
       geworden.
       
       24 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /UNO-Berichterstatter-ueber-Inklusion/!6064939
   DIR [2] https://www.berlin.de/lageso/soziales/persoenliche-assistenz/
   DIR [3] https://www.berlin.de/lageso/behinderung/schwerbehinderung-versorgungsamt/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Eingliederungshilfe
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Kücking
       
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