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       # taz.de -- Buch „Unser Körper, unser Leben“: Die Lücke im Regal
       
       > Die Schönheit der Klitoris, Zigaretten als Waffe und
       > Menstruationsschwämmchen: Das feministische Handbuch „Unser Körper, unser
       > Leben“ ist das Beste.
       
   IMG Bild: Haben Sie vielleicht „Our Bodies, Ourselves“ da? Kundinnen in einem Frauenbuchladen in München, 1975
       
       Irgendwann letzten Sommer – mich schüttelte gerade eine dieser
       Hitzewallungen, meine Tochter watete knietief durch ihre Pubertät – war da
       diese Lücke im Bücherregal. Also nur metaphorisch, in Wirklichkeit war
       jeder Kubikzentimeter Regalvolumen ausgefüllt wie immer. Es war eine
       inhaltliche Leere, oder besser: eine seelische, ein bisschen wie
       Liebeskummer. Mir fehlte meine Stütze, mein Rat, dieses empathiegesättigte,
       zupackende, wenn auch keinesfalls „objektive“ Kompendium von 639 Seiten,
       das „Frauenratgeber“ zu nennen eine Beleidigung wäre. Mir fehlte: „Unser
       Körper, unser Leben“.
       
       Das Buch gilt als früher Klassiker der [1][feministischen
       Selbsthilfekultur]: Das „Boston Women’s Health Collective“ brachte „Our
       Bodies, Ourselves“ Anfang der 1970er für wenige Cent unter die Leute.
       Schnell entwickelte sich das Buch über sexuelle Gesundheit und
       Selbstbestimmung zum Bestseller, wurde in viele Sprachen übersetzt und
       erfuhr zahlreiche neue Auflagen. Die deutsche Neuausgabe von 1988 („Ein
       Handbuch von Frauen für Frauen“) landete zu meinem 15. Geburtstag auf dem
       Gabentisch. Gewünscht hatte ich es mir nicht, es war ein Geschenk meiner
       Mutter. Damals murmelte ich „Danke“ und schaute etwas verwirrt auf das
       Umschlagbild, das zwei befreit lachende dunkelblonde Frauen in Weiß zeigte
       (ich trug eher Schwarz).
       
       Erst heute verstehe ich, was für ein großes Geschenk das war: Auf den
       Seiten wurde so ziemlich alles verhandelt, womit sich [2][eine
       heranwachsende junge Frau] beschäftigt (soll ich als Vegetarierin
       Eisenpillen nehmen, warum zwickt der Tampon immer, wie gehe ich mit der
       Essstörung meiner Freundin um, wachsen meine Brüste eigentlich noch?) oder
       womit sie vielleicht eines Tages konfrontiert wird (wie komme ich am
       unauffälligsten an die Pille/einen Schwangerschaftstest/eine
       Drogenberatung?) – was sie aber unter keinen Umständen mit ihrer Mutter
       besprechen will.
       
       Damals schleppte ich das Buch kommentarlos in mein Zimmer. Bald wurde es zu
       einer Gewohnheitslektüre. Ich nahm es zur Hand, um mich über anatomische
       Details meines Körpers zu informieren. Und las dann quer: über Sport,
       Frauenliebe, Abtreibung, Selbstbefriedigung. Den Autorinnen ging es nicht
       um feministische Theorie, sondern um das Teilen von Körper- und
       Erfahrungswissen.
       
       Sie ließen sehr viele Frauen zu Wort kommen: Schwarze Frauen,
       schichtarbeitende Alleinerziehende, vergewaltigte Frauen, drogenabhängige
       Frauen, [3][Frauen mit Behinderung], lesbische Frauen – was meinen
       bürgerlich-bayerischen Dorfhorizont sehr erweiterte. Sie gaben Lese- und
       Verhaltenstipps auf eine pragmatisch-fröhliche amerikanische Art.
       
       Manches fand ich banal („Achte beim Laufen auf eine bequeme Schrittlänge
       und beuge die Knie, um die Stöße abzufedern“), anderes untauglich (wie die
       [4][Menstruationsschwämmchen] oder die Schleimbeobachtungsmethode zur
       Empfängnisverhütung). Anderes war dagegen erhellend: Empowered vom
       Ratschlag, mich zu vernetzen, trat ich mit meiner Freundin der lokalen
       Frauengruppe bei und ertrug erhobenen Hauptes das [5][„Lesben“-Gemurmel].
       Und als ich beim Trampen (das Buch warnte davor!) einmal in eine hässliche
       Situation geriet, befreite ich mich mithilfe einer brennenden Zigarette,
       die ich dank der Bostoner Ladies als „legale Waffe“ abgespeichert hatte.
       
       Das Buch zog mit mir von zu Hause aus und durch die WGs. Zur Hand nahm ich
       es immer seltener, ich entdeckte stattdessen feministische Theorie und
       Literatur. Auf dem Nachttisch meiner Mutter tauchte irgendwann der zweite
       Band „Älter werden“ auf, während ich meinen entsorgte. Zu altmodisch, es
       gab Aktuelleres!
       
       Nur: so eine Mischung von feministischer Tatkraft und praxistauglichen
       Tipps habe ich eben nie wieder gefunden. Und da saß ich dann, [6][mit
       meinen Hitzewallungen und der Pubertät]. Und bestellte mir „Unser Körper,
       unser Leben“ secondhand. Die Lücke in meinem Bücherregal ist jetzt wieder
       gefüllt. Und vielleicht lasse ich das Buch demnächst „zufällig“ auf dem
       Lieblingsplatz meiner Tochter liegen.
       
       9 Mar 2025
       
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