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       # taz.de -- Musiktheater „Schlaflos“ in Braunschweig: Mitgefühl für die Elenden
       
       > Regisseur Philipp Krenn verlegt seine Adaption von Jon Fosses Erzählung
       > „Schlaflos“ ins Berlin der 1970er: Teenager kämpfen am Bahnhof Zoo ums
       > Überleben.
       
   IMG Bild: Hinter der heruntergerissenen Werbung für eine Norwegen-Reise: die triste Realität
       
       Der Handlungsort ist klar benannt, aber auch ins archaisch Mythische
       überhöht: Norwegens wilde Küste mit ihren schroffen Bewohner:innen. Der
       Kampf ums Überleben kann in dieser feindlichen Welt geradezu Tragödienwucht
       gewinnen. Für solche existenziellen Deutungen verzichtet Jon Fosse auf eine
       Zeitangabe in seiner [1][mit dem Literaturnobelpreis 2023 ausgezeichneten
       „Trilogie“].
       
       Der im März 2024 verstorbene Komponist [2][Peter Eötvös] erdet die erste
       der drei traumdunkel schwebenden Erzählungen, „Schlaflos“, als einen
       Versuch in nordisch-modernem Verismo, überschreibt die Tristesse mit
       Hoffnungsausbrüchen und bringt die brodelnde Gemengelage der hässlichen,
       schäbigen und schönen Gefühle des Personals in musikalisch wirkungsvolle
       Form.
       
       Dabei jongliert Eötvös souverän mit den Klangeffekten der Musikgeschichte.
       Und immer wenn der Tod ins Geschehen lugt, erklingen Melodien im
       warm-weichen Marimba-Idiom. Dem Schauplatz gemäß ist auch Folkloristisches
       aus [3][Norwegen] in die Partitur eingewoben, die auch immer wieder
       Skandinavienstimmung evozieren soll. Was in etwa klingt wie Kälte im
       Zwielicht, sehr apart.
       
       Als sich jetzt aber der Vorhang des Staatstheaters in Braunschweig zur
       „Schlaflos“-Premiere erhebt und das Staatsorchester unter Alexander Sinan
       Binders Leitung loslegt – sind realistische Nachbildungen des
       schmuddelig-gelben Fliesen-Designs im [4][Berliner Bahnhof Zoologischer
       Garten] zu sehen – wo nun Fosse-Sentenzen über das Meer, den Lachs, die
       Fischerei recht fremd anmuten und Fosse-Blicke in einen religiös
       aufgeladenen Himmel nicht möglich sind.
       
       Dafür liegen „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ am berühmt-berüchtigten
       1970er-Jahre-Treffpunkt der Drogenszene unter einem Zigarettenautomaten,
       suchen die letzten erbettelten Groschen für Glimmstängel zusammen und
       spritzen sich auch mal Heroin für die Momente, die sie als Glücklichsein
       beschreiben. Von solchem Junkie-Elend steht nichts bei Fosse.
       
       Mit dem gnadenlosen Realismus im Retro-Setting nimmt Regisseur Philipp
       Krenn dem Stoff seinen kunstvoll überwirklichen Charme, gewinnt aber
       konkrete Charaktere: zwei Minderjährige aus prekären Verhältnissen. Sie
       besitzen nichts außer einer ererbten Geige, aber lieben sich inständig. Das
       Mädchen ist hochschwanger, ihr Freund zu Tode erschöpft und kurz vorm
       psychischen Kollaps.
       
       Beide suchen eine Unterkunft, die vor dem Obdachlosendasein schützt. Bei
       Fosse klingeln sie an den Türen eines Fischerdorfs, in Braunschweig fragen
       sie andere Bahnhofsbewohner:innen: Prostituierte, Trinker,
       Verkäufer:innen und Reinigungskräfte. Sie lässt Krenn als Stereotypen
       der Bosheit, des Egoismus und Machismo auftreten.
       
       Kein Wunder also, dass sich dem jungen Paar nirgendwo eine Herberge auftut.
       Nein, die beiden heißen nicht Maria und Joseph, sondern Alida (Veronika
       Schäfer) und Asle (Matthew Peña). Norwegen begegnen sie tatsächlich auch
       noch, wenn auch nur auf einem riesigen Plakat, das unter der PR-verlogenen
       Überschrift „Freiheit Erleben“ einen „Traumurlaub“ per Kreuzfahrtschiff in
       den Fjorden verspricht.
       
       ## Verwilderung am gesellschaftlichen Rand
       
       Alida und Asle eröffnen die Wirklichkeit, reißen also die Werbung herunter.
       Dahinter liegt die heruntergewohnte Küche von Alidas Mutter. Ein trostlos
       herumhockender Mann gehört zum Inventar. Vor dem Fenster erheben sich
       Sozialwohnungsblöcke.
       
       Als Alida etwas zu essen aus dem Kühlschrank und Geld aus der Spardose
       klauen will, beschimpft die Mutter ihre Tochter als „Abschaum“. Asle rafft
       das Geld zusammen, sucht mehr und schlitzt der Mutter den Hals auf.
       
       Damit nicht genug. Als daran erinnert wird, wie das Paar aus einem Haus
       vertrieben wurde, durchzucken Asle wieder aggressive Schübe. Später wird
       klar, auch dort hat er gemordet. Eine besonders harsch die
       Übernachtungsbitte ablehnende Frau überlebt die Begegnung mit Asle
       ebenfalls nicht.
       
       Die am gesellschaftlichen Rand Dahinvegetierenden sind in einem so
       desolaten Zustand, dass daraus Verwilderung erwächst. Es sind die übergroße
       Not und die täglichen Demütigungen, die zivilisatorischen Firnis bröckeln
       und Asle zuschlagen lassen.
       
       In ihrem Mitgefühl für die Außenseiter:innen sind sich Fosse und Krenn
       einig. Und in der Anklage einer herzlosen Gesellschaft, die Asle
       schließlich für seine Taten lyncht – in Braunschweig wird er in einem
       Bahnhofsschaukasten als Hassobjekt ausgestellt und erstickt.
       
       Das antiromantische Sozialdrama funktioniert bestens dank der sängerisch
       und schauspielerisch eindringlichen Rollengestaltungen. Am Ende sitzen
       beide wie am Anfang im Bahnhof Zoo – als wäre alles nur ein Traum gewesen,
       den zu träumen niemandem zu wünschen ist. Ihn anzuschauen aber ergibt einen
       bewegenden Theaterabend, erbarmungslos deprimierend und mit empathischer
       Zärtlichkeit für das Liebespaar einnehmend.
       
       19 Feb 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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