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       # taz.de -- Werfel-Stück über Fremdenhass: Auf der schiefen Ebene
       
       > Franz Werfels „Bocksgesang“ im Landestheater Schleswig-Holstein zeigt,
       > wie Fremdenhass entsteht, wenn Gesellschaften Probleme ignorieren.
       
   IMG Bild: Damit es schiefläuft, braucht es gar keine Fremden
       
       Wie entsteht Fremdenhass? Franz Werfels gut 100 Jahre altes Stück
       „Bocksgesang“ gibt eine Antwort darauf, was passiert, wenn eine
       Gesellschaft sich nicht mit den hausgemachten Problemen befassen will und
       stattdessen Zugereiste zu Sündenböcken macht. Das Landestheater
       Schleswig-Holstein bringt diese Botschaft in klaren, teils grellen Bildern
       auf die Bühne. Dabei helfen ein ebenso schlichtes wie überzeugendes
       Bühnenbild und Momente, die die Zuschauer:innen zu Mitwirkenden machen.
       
       Als Bittsteller, aber nicht demütig treten die Abgesandten der fremden
       „Landlosen“ vor den Rat der Gemeinde, die irgendwo im Osten Europas liegt –
       Werfel wurde 1890 in Prag geboren, das damals zum Königreich
       Österreich-Ungarn gehörte, das Stück wurde 1922 in Wien uraufgeführt.
       
       In den Rat kommen die Landlosen, weil ihre Gruppe sich in der Region
       ansiedeln möchte. Teiterlik appelliert an die Menschlichkeit: „Es ist ein
       Weh!“ Der „Amerikaner“ nennt Vernunftgründe: „Keine Wohltat, eine
       Investition.“ Schließlich würden die Neuen Brachland roden, arbeiten,
       Steuern zahlen.
       
       „Es ist zu erwägen“, sagt eine Stimme aus dem dunklen Zuschauerraum. Doch
       drei, vier andere Stimmen aus dem Saal schreien die Bitten nieder, und die
       Besucher:innen sind auf einmal Teil einer schweigenden Mehrheit, die
       nichts sagt, um die Fremden zu verteidigen – ein unangenehmes Gefühl, das
       diese Inszenierung von Moritz Nikolaus Koch beklemmend aktuell macht.
       
       Den letzten Ausschlag, wie mit den Fremden zu verfahren ist, gibt der
       reichste Mann im Ort und Ratsvorsitzende Stevan Milič. In einer wirren
       Wutrede wirft er den Fremden vor, sie seien „Söhne der Blutschande“ und
       trügen das „Gesicht des böckischen Affen“. Also müssten sie „weg, weg,
       fort“. Damit ist der weitere Weg klar, er führt in Kampf und Tod.
       Schließlich stehen alle Beteiligten mit buchstäblichen blutigen Händen da.
       
       Aber eigentlich ging es gar nicht um die Fremden. Dass in dieser Familie,
       dieser Gemeinde von Anfang an etwas falsch läuft, verrät schon das
       Bühnenbild: Auf der schiefen Ebene, dem zentralen Element der Bühne, kann
       nichts geradeaus oder gar aufwärts gehen. Das wird schon in der ersten
       Szene klar, in der Mirko, der Sohn von Milič und seiner „Alten“, Verlobung
       mit Stanja, feiert.
       
       Stanja hält den Verlobten auf Abstand, und auch die Eltern sind weit weg
       von Feierlaune. Denn es liegt ein Schatten über dieser Familie: Seit über
       20 Jahren lebt der erstgeborene Sohn der beiden versteckt in einer Hütte
       auf dem Grundstück. Dass er behindert und entstellt ist, empfinden die
       Eltern als Schande. Nur eine alte Magd kümmert sich um das Kind, die Mutter
       hat ihn zuletzt bei der Geburt gesehen, der Vater kennt ihn überhaupt
       nicht.
       
       Gegenseitig schieben sie sich die Schuld an dem Unglück zu. Den Rat eines
       modern eingestellten Arztes, den jungen Mann in ein Heim nach Wien zu
       bringen, schlagen sie aus: Es ist für sie schier unerträglich, dass andere
       ihn sehen. Lieber will Milič den „Bock“ ermorden. Doch der ist geflohen,
       nur seine Rufe schallen über das Land, eben der titelgebende Bocksgesang.
       
       ## Überdeutliche Botschaft
       
       Statt systematisch nach ihm zu suchen, gibt Milič eben den [1][Fremden die
       Schuld] an allem. Die setzen sich zur Wehr, angeführt und angestiftet von
       einem Ansässigen, dem Studenten Juvan. Der ist unehelich aufgewachsen und
       hasst die bräsige Bürger- und Bauerngesellschaft. Nur angedeutet wird, dass
       er möglicherweise ebenfalls ein Sohn von Milič ist.
       
       Die Botschaft ist sehr deutlich, vielleicht überdeutlich,
       [2][expressionistisch] eben. Dazu trägt bei, dass die Vertreter:innen
       der Sesshaften unter ihren Kitteln oder Kleidern dicke Polster geschnürt
       haben, die sie dick und unbeweglich machen: Die sitzen, wo sie sitzen, und
       machen Platz für niemand. Die Landlosen dagegen sind dünn und beweglich.
       
       Als der Kampf tobt, ist die Bühne in rotes Licht getaucht. Zum Schluss ist
       der Hintergrund blau erleuchtet, als Zeichen eines besseren Morgens. Aber
       die Deutlichkeit ist bei diesem Thema durchaus am Platz. Das
       [3][Rendsburger Premierenpublikum] dankte dem Ensemble mit langem Applaus.
       
       3 May 2025
       
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