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       # taz.de -- Essay für eine neue europäische Politik: Jetzt Europa!
       
       > Der Schritt zu einer nach innen und außen wehrhaften Demokratie ist nie
       > getan worden. Weltweit kommt es zur Kumpanei der Antieuropäer.
       
   IMG Bild: Dramatische Verschiebungen: Handschlag zwischen Donald Trump und Wladimir Putin in Helsinki, 2018
       
       Nachdem im Wahlkampf die äußere Sicherheit ein Randthema geblieben war,
       schnellte sie am Wahlabend in den Rang einer dramatischen tektonischen
       Verschiebung hoch. Die Kumpanei der [1][Antieuropäer Wladimir Putin und
       Donald Trump] stellt endgültig jene Zeitenwende dar, die bei ihrer
       Ausrufung vor genau drei Jahren erst schemenhaft verstanden wurde. Schon
       lange hat Russland den Krieg gegen Europa ausgerufen und Amerika seinen
       Rückzug annonciert. In Deutschland verweigerten die Regierenden der
       Ukraine, was zu ihrer Verteidigung nötig war, sie waren geschockt, als JD
       Vance Europa den Laufpass gab; die Opposition schlug weiter den
       pazifistischen Grundakkord an, der schnurstracks auf ein neues München 1938
       hinausläuft.
       
       Um es klar zu sagen: Die satte Mehrheit der Putin-Verharmloser und
       Trump-Adepten [2][vor allem in den östlichen Bundesländern] markiert, wo
       die Grenze zu „Vichy-Deutschland“ verlaufen wird, wenn sich die Regierung
       Merz-Pistorius zu echten Verbesserungen der europäischen Sicherheit
       durchringen würde. In Vichy war 1940 bis 1944 die Kollaborationsregierung
       der „freien Zone“ mit Nazideutschland angesiedelt.
       
       Die nun einseitig aufgekündigte transatlantische Allianz war stets von
       Missverständnissen, Interessenkonflikten und wechselseitigen Vorurteilen
       durchzogen, Antiamerikanismus lebte in allen politischen Familien: links
       als Kritik am „Empire“, rechts als Vorbehalt gegen eine „Reeducation“ und
       eine „Westbindung“, auch in der Mitte als Distanz zu einer Populär- und
       Konsumkultur, die am Ende doch fast alle für sich gewann. Echte
       Freundschaft entwickelte sich eher in den Nischen des Privatlebens, der
       Wissenschaft und Kunst, doch für Libertäre wie uns war sie existenziell,
       was bei Verfechtern des „Ami go home!“ stets auf Verwunderung stieß. Die
       Deutschen genossen die Abschreckung des atomaren Schutzschildes, den sie
       zugleich wortreich bekrittelten.
       
       Besonders stark war die Spannung zwischen verdruckster Aneignung und
       plakativer Aversion in der SBZ und DDR, auf deren Boden sich rechts- und
       linkspopulistische Amerikafeindlichkeit vermengten – und bis heute am
       stärksten halten. Indem auch nach 1990 Geborene an der Amerikaphobie
       festhalten, vererbt sich die fehlende Freiheitserfahrung von 1933 bis 1989
       auf die Enkel und Urenkel. Dass sie sich nun ausgerechnet im Hinblick auf
       Trump abschwächt und in eine Kapitulation vor Tech-Milliardären umschlägt,
       zeugt von der geistigen Verwirrung, in welche die AfD den Osten und immer
       mehr Regionen und Milieus im Westen gestürzt hat.
       
       Der Grundakkord bleibt ironischerweise das „Ami go home!“; der russische
       Vernichtungskrieg wird wider besseres Wissen als nachvollziehbare Reaktion
       auf das imperiale Gebaren der Vereinigten Staaten nach 1990 und die
       Osterweiterung der Nato verkauft. Die noch halbvernünftigen Ausführungen
       des Linken-Vorsitzenden Jan van Aken („Worte statt Waffen“) wurden
       übertroffen in Sahra Wagenknechts Aufruf zum Kapitulationsfrieden und ins
       Absurde gesteigert durch Alice Weidel und Björn Höcke, die allen Ernstes
       eine eurasische Union mit dem Kreml anstreben.
       
       Das Kollaborationsregime in Vichy bildete sich aus einer ähnlichen
       Querfront aus gutgläubigen Pazifisten, Ex-Kommunisten und extremen
       Nationalisten. Entsprechend stellen sich zu Trump & Putin jetzt die
       Jasager, Weißwäscher und Weltgeistbeschwörer auf. Die Jasager der AfD
       erblicken in den Machenschaften Trumps (und seines quirligen Mephistos Elon
       Musk) die Blaupausen für den legalen Staatsstreich. Alice Weidel munkelte
       in einem Interview mit dem rechten US-Magazin The American Conservative,
       Deutschland sei nach 1945 eine Kolonie der Vereinigten Staaten geworden,
       und gab das revisionistische Motto aus „wir Deutschen sind ein besiegtes
       Volk“. Der Vorteil, „Sklave zu sein“? Deutsche seien zum Glück nicht
       gezwungen gewesen, in vorderer Front an den Kriegen der westlichen
       Hegemonialmacht mitzuwirken, die ihre Partei bekanntlich als wahre
       Auslöserin des Ukrainekrieges identifiziert hat.
       
       Sahra Wagenknecht opponiert deutlicher gegen Trump, aber nicht, weil er mit
       Wladimir Putin paktiert (das begrüßt sie zum Zweck der Friedensstiftung),
       sondern weil der hässliche Amerikaner sich ukrainische Rohstoffe unter den
       Nagel reißen will. Den Rückzug seiner Militärmacht aus Europa heißt sie
       wiederum gut, denn damit dürfte auch die Stationierung von
       Mittelstreckenraketen – ein Popanz der gesamtdeutschen Friedensbewegung
       seit den 1970er Jahren – vom Tisch sein. Die Charakterisierung der USA als
       imperiale Macht erhält durch den Gebietshunger und die Gier der
       Trump-Administration neue Nahrung, der russische Neokolonialismus wird
       weiter ignoriert.
       
       Das politische Establishment der Weißwäscher spielt diese Disruption
       herunter und beschwichtigt die Furchtsamen: Nichts werde so heiß gegessen,
       wie es gekocht wurde. BDA-Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger meinte etwa,
       Trump werde Europa durchrütteln: „Das tut uns vielleicht gut.“ Dass
       Friedrich Merz, der sich dank seiner Unternehmenserfahrung mit Trump
       verstehen zu können hoffte, nach der rüden Absage ehrlich schockiert war,
       darf man ihm abnehmen.
       
       Damit treten die „Realisten“ des Weltgeistes auf den Plan: Gewiss werde die
       Trump-Administration einiges weltpolitische Porzellan zertrümmern, aber
       unterm Strich auch Positives bewirken, im Bunde mit ebendem Hegel’schen
       Weltgeist. Die Rede von JD Vance in München, in der er die Meinungsfreiheit
       in Deutschland unterdrückt fand und die AfD in der Regierung sehen wollte,
       fand Springer-Vorstand Mathias Döpfner „inspirierend“, [3][die europäischen
       Reaktionen „weinerlich“.]
       
       Im Ernst jetzt? Trump als die Kraft, die Böses will, aber stets das Gute
       bewirkt und zum Beispiel den Krieg in der Ukraine beenden kann? Und den im
       Nahen Osten? Und wer weiß: Wie weiland Stalin der ungewollte Mitgründer der
       Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde, könnte Trump zum Deus ex
       machina des Fortschritts der EU-Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zum
       Bundesstaat werden – mit einer gemeinsamen Armee und der Ukraine als
       Mitglied?
       
       Von allein geschieht das gewiss nicht. Die Appelle, die Emmanuel Macron
       2017 für ein „Europa, das uns schützt“ ausbrachte, verhallten vor allem in
       Berlin folgenlos. Weiter wursteln 27 Armeen, ohne ernstgemeinte
       Unterstützung in der breiten Bevölkerung, und drei Dutzend
       Rüstungsbetriebe, hierzulande missmutig beäugt, vor sich hin. Der Schritt
       in eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie ist nie getan worden; in
       den Ämtern wie in den Köpfen herrschen nationale Engstirnigkeit und
       Kurzfristdenken vor.
       
       Dieses alte Denken beherrschte die jüngsten Wahlkämpfe aller EU-Staaten, wo
       man virtuelle Milliarden in sozial- und industriepolitische Luftschlösser
       investierte, namentlich in sichere Renten, ohne zu bedenken, dass solche
       unter russisch-amerikanischem und notabene chinesischem Druck von
       vornherein Makulatur sind. Und unter „sicheren Grenzen“ verstand man vor
       allem den Pushback unerwünschter Geflüchteter, weniger den Schutz vor
       hybriden und handfesten Angriffen des Kriegsherrn im Kreml.
       
       Dass diese geschehen und zunehmen werden, muss man der triumphierenden
       Linken ins Stammbuch schreiben. Die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit
       Europas wird auf mittlere Dauer Trillionen Euro kosten. Man darf sie, wie
       die Linke zu Recht sagt, nicht ausgerechnet den Ärmsten abverlangen und von
       einer verrottenden Infrastruktur und Industrie abzwacken. Aber überfällige
       Mehreinnahmen durch die gerechtere Besteuerung der Besserverdienenden und
       Superreichen kann man nicht für sozialpolitische Wohltaten reservieren und
       sich der überfälligen Nachrüstung verweigern, auch nicht einer
       unkonditionierten Reform der Schuldenbremse, für die eine breite Mehrheit
       im Bundestag notwendig sein wird.
       
       Wird da die Linke mit der AfD stimmen? Dann hat sie das Merz-Problem. Und
       frisches Geld benötigt man, wie Mario Draghi vorgerechnet hat, nicht nur
       für Umverteilung und äußere Sicherheit, sondern auch für eine wirklich
       nachhaltige europäische Wirtschaft, die zur Gewährleistung äußerer
       Sicherheit unabdingbar ist.
       
       Der Rückzug Amerikas aus der westlichen Werte- und Sicherheitsgemeinschaft
       hat noch dramatischere Aussichten. Wenn der „Atomschirm“ zugeklappt wird
       und eine nukleare Abschreckung gegen Putin und Xi Jinping notwendig bleibt,
       muss Deutschland seine Rolle als Trittbrettfahrer der Atommächte
       Großbritannien und Frankreich überprüfen und an einer europäischen
       Sicherheitsarchitektur mitwirken, die auch nukleare Abschreckung
       einschließt. Das schließt historisch an eine Debatte der 1950er Jahre an,
       als frankreichgeneigte „Gaullisten“ den amerikafreundlichen „Atlantikern“
       unterlagen, weil die USA damals noch ein verlässlicher Partner waren.
       
       Doch zu den Eventualitäten der Zeitenwende, mit denen sich Friedrich Merz
       und seine sozialdemokratischen Kabinettskollegen auseinandersetzen müssen,
       gehört, dass sie – mit der AfD im Rücken – mit zwei „Politikwechseln“ in
       London und Paris rechnen müssen, die Trump- und Putin-freundliche Radikale
       wie Nigel Farage und Marine Le Pen vorantreiben.
       
       Wir leben in einer anderen Welt, denn der Krieg, den wir alle partout
       verhindern wollten, hat bereits begonnen. Ebenso wenig, wie sich kein
       CDU-Kanzler der letzten 76 Jahre hätte träumen lassen, dass er – wie nun
       Friedrich Merz – zu Washington und Moskau Äquidistanz halten müsste, hätten
       wir uns je vorstellen können, dass wir uns nun für Kriegstüchtigkeit, mehr
       Anerkennung für die Bundeswehr und eine effektive Rüstungsindustrie
       erwärmen. Doch in der globalen Auseinandersetzung zwischen Autokraten und
       Demokraten ist es nur die Fortsetzung des Widerstands gegen Feinde der
       Freiheit, der auch Hitler und Stalin zu Fall gebracht hat.
       
       2 Mar 2025
       
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