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       # taz.de -- Mit Widersprüchen leben: Ich habe Fragen
       
       > In einer Welt, die auf alles Antworten zu haben scheint, müssen wir
       > Fragen stellen. Denn sie sind ein Anfang und erlauben, mit Widersprüchen
       > zu leben.
       
   IMG Bild: Ein Berg Melancholie
       
       Kohärenz ist eine Lüge aus den nuller Jahren, als alle Jeans und T-Shirt
       trugen. Damals ging ich zur Schule. Es gab gut und böse – und den Common
       Sense, dass Geschichte linear verläuft, immer Richtung Fortschritt. Viele
       haben das geglaubt. Ich und meine Freund*innen nicht.
       
       Wir waren voll die Nervensägen. Wir verstauchten uns die Füße in Moshpits,
       brachen uns die Herzen in stickigen Kellern, vernebelten uns die Sinne in
       den Pausen hinter der Turnhalle, schauten Trashfilme und erfuhren von Bruce
       Lee: „Ein weiser Mensch lernt mehr von einer dummen Frage als ein dummer
       von einer weisen Antwort.“
       
       Wir ahnten: In einer Welt, die auf alles Antworten hat, müssen wir Fragen
       stellen. Wer macht die Lehrpläne? Wem gehört die Schule? Wer hat sie
       gebaut? Wer putzt ihre Toiletten? Warum verdienen Lehrer*innen viel
       mehr als Putzkräfte? Warum kommt nachmittags [1][statt „Alf“] Reality-TV,
       wo Arbeitslose so viel Müll labern, bis Fremdscham genug Ressentiment für
       neoliberale Reformen erzeugte?
       
       ## Eine Ordnung, die es nie gab
       
       Wir dachten, wir hätten die richtigen Fragen gefunden. Dann entblößten sich
       die Lügen selbst. [2][9/11]. Die Angst in Flughäfen und Köpfen. Songs, zu
       denen wir moshten, wurden in Guantánamo zur Folter benutzt. Die Welt wurde
       nicht klüger, nur weil sie WLAN hat. Sie wurde kindischer, fieser,
       rassistischer – und sah immer schöner, gesünder, cooler aus. Damals wurde
       Kohärenz inszeniert, es gab eine Erzählung. Heute gibt es tausend Versionen
       – und ich muss eine wählen. Weit oben rangiert die von Techpsychos und
       Rechten. Sie verkaufen ihre Politik als Disruption, sind aber
       überangepasst. Sie wollen zurück zu dieser Ordnung – die es nie gab.
       
       Meine Clique gibt es nicht mehr. Doch wir hätten sicher neue Fragen. Was
       regiert dich? Deine Sehnsucht? Dein Job? Die Arschlöcher auf Tiktok? Würde
       dich deine Kinderversion mögen? Warum sind Menschen heute klüger, aber
       verhalten sich dümmer? Warum macht Canceling mehr Angst als Faschismus?
       Warum sieht die Zukunft, die Parteien versprechen, aus wie eine
       Powerpoint-Präsentation von 2013? Ist der Kampf zwischen Gut und Böse nicht
       eher einer zwischen Arbeit und Kapital?
       
       Warum sind die einzigen Orte, die sich wie zu Hause anfühlen, offene Tabs?
       Wie oft hast du dich schon empört und es kurz danach vergessen? Wenn die
       [3][Self-Checkout-Kasse] Danke sagt, meint sie es auch?
       
       ## Fragen sind ein Anfang
       
       Würdest du den Abzug drücken, wenn du dich verteidigen musst? Weißt du, was
       du musst? Glaubst du, was du müssen sollst? Was weißt du über das, was du
       nicht weißt? Hast du Angst davor? Wer profitiert davon? Warum gibt es 50
       Namen für Beige, aber keinen für das Warten, wenn „tippt“ aufblitzt und
       wieder verschwindet? Warum gibt es ein Emoji für kaputte Teller, aber keins
       für die Erleichterung, die du verspürst, wenn beim Anrufen niemand das
       Telefon abhebt?
       
       Glaubst du, der Kapitalismus ist nicht Teil von dir? Glaubst du dir
       manchmal selbst nicht? Was magst du lieber, ficken oder gefickt werden?
       Kann Liebe vergehen oder nur die Idee, wie sie hätte sein sollen? Kannst du
       mal die Fresse halten? Woran geht Demokratie zugrunde? Wann wird Zuversicht
       dumm? Wen würdest du küssen, wenn die Welt untergeht? Sind Sonnenuntergänge
       über Müllhalden die einzig wahre Melancholie?
       
       Keine Ahnung. Fragen sind ein Anfang. Sie verlangen keine Kohärenz und
       erlauben, mit Widersprüchen zu leben.
       
       4 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
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