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       # taz.de -- Film „Die Eine tanzt, die Andere nicht“: Ein kluger Blick auf das Leben an den Rändern
       
       > Regisseurin Emilie Girardin erzählt vom Leben junger migrantischer Frauen
       > in der Hamburger Kulturszene und ihrem Ringen um ein queeres
       > Lebensmodell.
       
   IMG Bild: Die Freundinnenschaft steht obenan: Filmszene mit Tirza (Tirza Ben Zvi, l.) und Dani (Daniela Castillo Toro)
       
       Ein lesbisches Paar wünscht sich ein Kind – aber der Freund, dessen Samen
       die beiden dafür bräuchten, weigert sich, ihn zur Verfügung zu stellen.
       Gleichzeitig wird eine andere Freundin ungewollt schwanger und will
       abtreiben. Könnte sie nicht das Wunschkind der beiden austragen? Ein Stoff,
       aus dem ein Melodrama gebastelt wird, es muss Seifenopern geben, in denen
       so ein Szenario durchgespielt wurde. Und wie intensiv hätte etwa ein
       [1][Pedro Almodóvar] diese Geschichte weitergesponnen bis zur letzten
       tränenreichen Konsequenz?
       
       Nun ist das Umrissene zwar der Haupthandlungsstrang von Emilie Girardins
       „Die Eine tanzt, die Andere nicht“. Aber die schweizerisch-polnische
       Wahlhamburgerin hat kein Interesse an einem queeren Rührstück. Stattdessen
       ließ sie sich von [2][Agnés Varda] inspirieren, deren feministischer
       Klassiker „Die eine singt, die andere nicht“ von 1977 Pate stand, und das
       nicht nur vom Titel her: Auch da ging es um Zeugung, Abtreibung und die
       Rechte von Frauen – und ein ähnlich kluger, liebevoller Blick auf ihre
       Protagonistinnen verbindet die Filmemacherinnen.
       
       Girardin verortet ihren Film im Milieu junger KünstlerInnen, zumeist aus
       anderen Ländern nach Hamburg gekommen, wo sie sich nun durchbeißen in
       prekären, sogenannt freien Verhältnissen.
       
       Die Jüdin Tirza zum Beispiel ist Tänzerin, und in der ersten Szene des
       Films sehen wir sie beim Vortanzen für ein Engagement bei einer modernen
       Ballettgruppe. Wenn sie dann fast den ganzen Film über nicht weiß, ob man
       sie ablehnen wird, hallen darin nicht zuletzt Girardins eigene
       Lebensumstände wider; auch sie muss immer wieder um die Finanzierung ihrer
       Projekte bangen. Von „Autofiktion“ spricht sie mit Blick auf ihre Methode,
       aber es geht da um mehr, als sich für die Kunst an der eigenen Biografie zu
       bedienen.
       
       Auch auf anderer Ebene werden hier Realität und Erzählung, Dokumentation
       und Spiel miteinander vermengt. Die ProtagonistInnen werden fast alle
       von professionellen SchauspielerInnen dargestellt, lediglich eine der
       Mütter verkörpert Girardins eigene Mutter. Dann tragen die Filmfiguren aber
       die Namen der Darstellenden, Tirza etwa wird gespielt von der Israelin
       Tirza Ben Zvi, einer professionellen Tänzerin, die auch schon auf
       Theaterbühnen etwa in Göttingen und Hamburg zu sehen war.
       
       In langen, improvisierten Proben haben die Spielenden sich die Charaktere
       selbst erarbeitet. Wenn etwa Ben Zvi bei den Proben einwandte, so wie
       vorgeschlagen würde sie doch nie agieren, dann wurde die Szene in ihrem
       Sinne geändert: Bei dieser Arbeitsweise ist nicht die Regisseurin die
       letzte Autorität, sondern die Darstellerin.
       
       Anders als 2020 für ihren [3][Film „The Last to Leave Are The Cranes“] ließ
       Girardin ihre Darstellerinnen diesmal nicht auch bei den Dreharbeiten
       selbst improvisieren. Sondern sie arbeitete lange an einem Drehbuch, das
       die zuvor improvisierten Dialoge verdichtete – so sehr, dass „Die Eine
       tanzt, die Andere nicht“ binnen 78 Minuten erstaunlich viele Themen
       behandelt, ohne ein überladener Thesenfilm zu sein.
       
       Eine gleichermaßen sachliche wie zugleich atmosphärisch reiche Milieustudie
       ist ihr gelungen: So müssen sich die jungen Frauen mit der deutschen
       Bürokratie herumschlagen, und Girardin zeigt, welche Beratungsgespräche
       Tirza führen und welche Formulare sie ausfüllen muss, um [4][legal
       abtreiben zu dürfen].
       
       Wenn Dani (Daniela Castillo Toro) versucht, den Wunsch nach einem
       gemeinsamen Kind mit ihrer Partnerin Reta (Anngret Schultze) durchzusetzen,
       dann passiert das nicht in Form hoch emotionaler Streitereien, sondern in
       Gesprächen. So wird unaufgeregt und authentisch von queeren
       Familienmodellen und reproduktiver Gerechtigkeit erzählt, und bei aller
       Leidenschaft opfern Tirza und Dani nicht ihre Freundinnenschaft den
       unterschiedlichen Lebensentwürfen.
       
       Nah an der Realität der jungen Frauen ist auch, wie sie kommunizieren: So
       ist kaum Dialog auf Deutsch zu hören, die Protagonistinnen reden entweder
       in ihren Muttersprachen Spanisch, Hebräisch und Polnisch miteinander oder
       auf Englisch, was zu interessanten Unschärfen führt. Vieles an
       Kommunikation geschieht zudem über Internet, Sprachnachrichten oder
       Handytelefonate, denn diese Frauen können mit den Familien und
       FreundInnen daheim nur über Medien in Kontakt bleiben.
       
       Schließlich ist dies auch ein Film über Hamburg, das Girard mit statischen
       Totalen, Fahrten neben den Protagonistinnen auf dem Fahrrad oder auch mit
       wackeliger Handkamera über die Schulter einer Joggerin erkundet. Dabei
       zeigt sie nicht die typischen Stadtbilder, vielmehr Straßen, Wohnungen,
       Studios und Büros in den wenig glamourösen Stadtteilen Hammerbrook und
       Wilhelmsburg. Und erzählt so, wenn schon nicht geografisch, dann doch
       metaphorisch vom Leben an den Rändern.
       
       7 Mar 2025
       
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