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       # taz.de -- Historiker über „Arisierung“: „Anfangs hielt sich die Drangsalierung noch in Grenzen“
       
       > Historiker Cord Aschenbrenner hat ein Buch über die „Arisierung“
       > jüdischer Geschäfte an Hamburgs Neuem Wall verfasst. Vor Ort erinnert
       > nichts daran.
       
   IMG Bild: Prunkt nicht nur zur Weihnachtszeit: Hamburgs Neuer Wall
       
       taz. Herr Aschenbrenner, gab es vor 1933 besonders viele jüdische
       Geschäftsleute an Hamburgs Neuem Wall? 
       
       Cord Aschenbrenner: Durchaus. Von den etwa 1.500 bis 1939 „arisierten“ oder
       liquidierten jüdischen Hamburger Unternehmen lagen über 40 am Neuen Wall.
       Die rund 580 Meter lange Straße galt schon in den 1920er-Jahren als beste
       Lage, die Geschäfte waren exklusiv und teuer. Allerdings war sie nicht, wie
       heute, geprägt von großen Ladenketten, sondern es herrschte eine größere
       Vielfalt. Die reichte von Stoffgeschäften, Bekleidungsläden vor allem für
       Damenmode über Optiker bis zu Hutgeschäften und einer Buchhandlung. Dazu
       kamen Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Privatbanken und Kontore von
       Kaufleuten, von den eben viele jüdisch waren.
       
       taz: Wann begannen die Schikanen, die im NS-Staat in die Enteignung
       jüdischer Inhaber mündeten? 
       
       Aschenbrenner: Das begann 1936 – etwas später als in anderen Städten, weil
       Hamburg infolge der Weltwirtschaftskrise noch als wirtschaftliches
       Notstandsgebiet galt. Daher hielt sich die Drangsalierung jüdischer
       Geschäftsleute aus ökonomischen Gründen zunächst in Grenzen, weil man auf
       sie angewiesen zu sein glaubte. Die jüdischen Geschäfte und Firmen boten ja
       viele Arbeitsplätze.
       
       taz: Wann kippte die Situation? 
       
       Aschenbrenner: Ab 1936/37 erließ die Devisenstelle der Hamburger
       [1][Oberfinanzdirektion] immer mehr „Sicherungsanordnungen“ für die Konten
       und den Besitz der jüdischen Geschäftsleute. Das erlaubte den
       Devisenstellen, beim geringsten Verdacht auf Kapitalflucht jüdischen
       Unternehmern die Verfügungsgewalt über ihr Eigentum und Vermögen zu
       entziehen und Treuhänder einzusetzen. Das betraf sowohl Privat- als auch
       Geschäftskonten. Damit begann die [2][„Arisierung“] jüdischer Geschäfte und
       Unternehmen.
       
       taz: Wie lief das im Einzelnen ab? 
       
       Aschenbrenner: Die jüdischen Eigner wurden gedrängt, ihr Geschäft zu
       verkaufen, oder sie taten es von sich aus, weil sie sich in Deutschland
       bedroht und durch zahllose Auflagen bedrängt fühlten. Manchmal kamen ihre
       Angestellten oder auch Konkurrenten und machten Kaufangebote. Bis 1936
       waren die manchmal noch halbwegs fair. Waren sie zu fair, wurden sie vom
       Gauwirtschaftsberater, dem zuständigen Mann der NSDAP, nicht genehmigt. Ab
       1937 wurden dann durchgängig zu niedrige Preise geboten, die die Eigentümer
       aus Not annahmen. Die Kaufsumme wanderte auf ein Sperrkonto, auf das nicht
       die Eigner Zugriff hatten, sondern die Oberfinanzdirektion.
       
       taz: Wie erging es den Betroffenen danach? 
       
       Aschenbrenner: Für die meisten der 13 Unternehmer, über die ich für mein
       Buch recherchiert habe, ist es insofern gut ausgegangen, als vielen, wenn
       auch völlig ausgeplündert, die Flucht gelang: erst in die Nachbarländer
       Belgien, Niederlande, dann von dort in die USA. Der bekannte Fotograf
       [3][Max Halberstadt] ging nach Südafrika, das Hutmacher-Ehepaar Hermann und
       Alma Hammerschlag floh nach Shanghai. Ein Teil der Familie Hirschfeld, die
       mehrere große Modehäuser besaß, emigrierte nach Uruguay. Der Seniorchef
       allerdings, der sich durch seine nichtjüdische Ehefrau geschützt fühlte,
       blieb in Hamburg. Er wurde ins [4][KZ Auschwitz] deportiert und von dort
       ins [5][KZ Buchenwald], wo er im April 1945 starb.
       
       taz: Wurden die Überlebenden nach dem Krieg entschädigt? 
       
       Aschenbrenner: Einige sind einigermaßen entschädigt worden. Aber sie
       bekamen nicht annähernd den wirklichen Wert dessen, was sie verloren
       hatten.
       
       taz: Finden sich heute am Neuen Wall Hinweise auf die „Arisierung“? 
       
       Aschenbrenner: Kaum. Es gibt nur drei [6][Stolpersteine] – was daran liegt,
       dass Stolpersteine generell nicht am Geschäftssitz der Verfolgten verlegt
       werden, sondern am letztem Wohnsitz. Außerdem finden sich am Neuen Wall
       zwei nichtssagende Tafeln, die an den 9. 11. 1938 erinnern, ohne zu
       erwähnen, dass dies die [7][Reichspogromnacht] war. Die Evangelische
       Akademie der Nordkirche, in deren Auftrag ich das Buch geschrieben habe,
       möchte dort Gedenktafeln, Stelen oder QR-Codes initiieren, die auf eine
       künftige Internetseite führen.
       
       6 Mar 2025
       
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