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       # taz.de -- Haustürwahlkampf mit der SPD im Osten: Rote Manöver
       
       > 2021 holte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg alle
       > Direktmandate. Können die Genoss*innen das am Sonntag gegen die AfD
       > wiederholen?
       
   IMG Bild: Ein paar Informationen, und Gummibärchen für die gute Laune: Maja Wallstein beim Straßenwahlkampf in Forst (Lausitz), Ende Januar
       
       ## Die Schiedsrichterin
       
       Sie müsse kurz hüpfen, sagt Maja Wallstein und springt vor Freude auf und
       ab. Ihr Pferdeschwanz wippt mit. Der 1. FC Energie Cottbus hat sie gerade
       auf Instagram mehrmals erwähnt. Anlass war der Besuch der
       SPD-Bundestagsabgeordneten einen Tag zuvor. Nichts geht über die Liebe
       zwischen einem Fan und ihrem Verein.
       
       Wallstein kann man als FC-Energie-Ultra bezeichnen. 1987 wurde sie in
       Cottbus geboren, von klein auf nahm der Vater sie mit ins Stadion. In ihrer
       Freizeit pfeift sie selbst Spiele in der Amateurliga. Die Cottbuser Kurve
       steht also. Doch in den Dörfern und Gemeinden südlich von Cottbus, da wird
       es für Wallstein schon schwieriger, Fans zu finden – Fans für die SPD.
       
       Maja Wallstein ist seit 2021 sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete,
       direkt gewählt in der Lausitz im [1][Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße].
       205.000 Menschen leben hier, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre
       alt, der Ausländeranteil beträgt rund 8 Prozent. Knapp 28 Prozent der
       Wähler:innen stimmten bei der letzten Bundestagswahl für Wallstein, es
       war ein hauchdünner Vorsprung vor dem AfD-Bewerber. Am Sonntag könnte es
       andersherum sein.
       
       An einem kalten Tag im Januar hat sich Wallstein vormittags die Kreisstadt
       Forst ausgesucht, um Menschen für sich und die SPD zu begeistern. Die
       Ortsgruppe hat einen Stand gegenüber von Kaufland aufgebaut. Wallstein
       spricht Passant:innen an, bietet Gummibärchen an, „Für die gute Laune!“,
       und Faltblätter, „Ein paar Informationen zur Wahl.“
       
       In Forst sorgten Tuchfabriken einst für Wohlstand, sanierte
       Gründerzeithäuser zeugen noch vom Glanz vergangener Tage. Seitdem die
       Industrie weg ist, schrumpft die Stadt, und das sieht man. Jede zweite
       Fußgänger:in ist mit Rollator unterwegs. Wallstein geht auf eine Gruppe
       Seniorinnen zu, die vor einem Café mit ausgebleichtem Schild stehen und an
       ihren Fluppen ziehen. Eine verstaut die Packung in der Handtasche und winkt
       ab. „SPD ist ja gar nicht meins. Ich wähle die AfD und nischt anderes.“ Die
       anderen schweigen.
       
       Wallstein gibt nicht auf. Was sie sich von der Politik wünschten?, will sie
       wissen. Und konkreter noch: „Von mir. Sagen Sie mir, was ich falsch gemacht
       habe.“ Die Frauen sagen, dass alles immer teurer werde und man kaum noch
       einen Arzt in der Nähe finde. „Beim Augenarzt in Döbern musste Schlange
       stehen.“ Und die Frauen wünschen sich Frieden auf der Erde, dass das
       aufhört mit dem Krieg. Alle Parteien hätten da versagt. Alle, außer der
       AfD.
       
       Wallstein könnte sagen, dass es Putin war, der die Ukraine überfallen hat,
       dass das billige russische Gas seitdem ausblieb und die Energiepreise
       explodierten. Sie könnte von den drei ukrainischen Frauen und ihren vier
       Kindern berichten, die sie gleich nach Kriegsbeginn bei sich zu Hause
       aufgenommen hat. Sie könnte die Krankenhausreform loben, die gerade
       Standorte im ländlichen Raum sichern soll. Und anmerken, dass die AfD außer
       Sprüchen gegen Ausländer für arme Leute nichts zu bieten hat. Aber all das
       tut sie nicht. Erstens stimmt es ja, Lebensmittel sind deutlich teurer
       geworden. Und auf dem Land gibt es tatsächlich kaum Ärzte.
       
       Und Maja Wallstein ist keine, die den Menschen ihre Meinung aufdrängt. Sie
       hört lieber zu. Jeden Sommer geht sie drei Monate auf Zuhörtour, zieht mit
       Bollerwagen über die Dörfer und sucht das Gespräch über den Gartenzaun
       hinweg. Sie erfahre dort, was die Menschen wirklich bewegt, berichtet
       Wallstein. Den Witwer etwa, der über kriminelle Ausländer herzog, aber vor
       allem Angst hatte, dass ihm die Vespa seiner verstorbenen Frau auch noch
       abhanden kommt. Die Frau, die sie anraunzte, alle SPD-Politiker seien
       Verbrecher, aber vor allem wütend war, dass die Krankenkasse ihre
       Schmerzmittel nicht mehr bezahlte. Weil sie das falsche Formular ausgefüllt
       hatte, wie Wallstein nach einem Telefonat mit der Krankenkasse erfuhr.
       
       Was sie aus diesen Gesprächen mitnimmt? „Dass wir als Gesellschaft noch
       nicht verloren sind“, sagt Wallstein. „Egal, wie weit wir auseinander
       liegen, 99,9 Prozent der Gespräche enden respektvoll.“ Die Frau, der sie
       half, die Erstattung für ihre Medikamente zu beantragen, habe sie sogar
       umarmt. Wallstein ist überzeugt: „Es reicht nicht, dass wir gute Politik
       machen, wir müssen gute Beziehungen aufbauen.“
       
       Aber das ist mühsam in einer Zeit, in der traditionelle Milieus
       auseinanderfallen und die Bindung zwischen klassischen Parteien und
       Wähler:innen abnimmt.
       
       Die Beziehung zwischen der SPD und ihren Wähler:innen ist gerade
       ziemlich erkaltet. [2][Einer Analyse des Wahlforschungsinstituts Ipsos
       zufolge] hat die SPD rund die Hälfte ihrer Wählerschaft seit der
       Bundestagswahl 2021 verloren.
       
       Über die Gründe kann Wallstein nur spekulieren. „Ach, in den letzten Jahren
       gab es immer was, was gegen uns gesprochen hat. Es gibt ja auch tausend
       Dinge, die schlecht laufen.“ Aber genau deshalb engagiere sie sich ja.
       
       Bevor sie 2009 in die SPD eintrat, war sie Mitglied bei den Jusos. Kämpfte,
       vergeblich, gegen die Fusion zweier Hochschulen – der damalige
       SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck nannte sie „Krawallstein“. „Ich
       muss ihm wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.“ Heute sind sie
       befreundet, am Abend desselben Tages wird Platzeck auf ihre Einladung hin
       ins Volkshaus Guben zum Gespräch mit Bürger:innen kommen.
       
       Mittags baut die SPD den Stand in Forst ab, Wallstein fährt mit dem Auto
       nach Guben, die Neiße entlang. Auf der anderen Flussseite ist schon Polen.
       Guben ist eine Grenzstadt, die Innenstadt schmuck saniert. In Kaltenborn
       dominieren dagegen vierstöckige Plattenbauten, dazwischen Grünstreifen und
       kleine Wäldchen. Die Tür-zu-Tür-App der SPD sagt ihr, dass sie hier ganz
       gute Chancen hat, dass man ihr öffnet.
       
       Auf den Klingelschildern stehen deutsche, slawische und arabische Namen.
       Hinter manchen Türen bellen Hunde, hinter einer weint ein Kind und eine
       schrille Stimme schreit: „Jetzt putz dir endlich die Nase oder biste
       bescheuert.“ Die Wände sind dünn, mitunter riecht man Zigarettenrauch aus
       einer Wohnung bis ins Treppenhaus.
       
       Die Menschen, die öffnen, reagieren tatsächlich überwiegend freundlich, die
       meisten nehmen Faltblatt samt Gummibärchen. Ein Junge gibt die Gummibärchen
       zurück: „Wir dürfen nicht, wir sind Muslime.“ Ein älterer Mann mit einem
       Che-Guevara-Shirt lädt sie auf einen Tee ein, aber Wallstein will noch ein
       paar Türen schaffen. Eine Rentnerin würde gern am Abend zum Gesprächsabend
       mit Platzeck kommen, aber der Bus fährt ab halb acht nicht mehr ins
       Zentrum. Wallstein organisiert ihr ein Taxi. Und geht treppab, treppauf zur
       nächsten Tür, Block für Block. Der Wahlkampf wird zur Fitnesseinheit.
       Während Wallstein kaum Ermüdungserscheinungen zeigt, wankt die Reporterin
       und wird am nächsten Tag Muskelkater haben.
       
       Vor einem Aufgang gehen zwei grauhaarige Damen spazieren: die ältere auf
       ihren Rollator und auf den Arm ihrer Begleiterin gestützt. Wallstein sagt
       ihr Sprüchlein auf: „Guten Tag, ich bin Maja Wallstein, ihre
       Bundestagsabgeordnete, ich …“ – „Ich habe sie doch beim letzten Mal
       gewählt“, unterbricht sie die jüngere der beiden. – „Es wird unfassbar
       knapp dieses Jahr“, sagt Wallstein und schaut gequält. Diesmal könnte der
       AfD-Kandidat gewinnen. „Hoffentlich“, fügt sie an, „gehen wenigstens alle
       zur Wahl, die eine demokratische Partei wollen.“ Die ältere schüttelt den
       Kopf. „Ich geh nicht mehr wählen.“ Die jüngere guckt sie streng an. „Also,
       das kleine Stück bis zum Wahllokal können wir alle laufen.“ Sie nickt
       Wallstein aufmunternd zu. Die ist immerhin über die Landesliste abgesichert
       – Platz 2, das sollte reichen für den Einzug in den Bundestag.
       
       Zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten kommen am Abend etwa
       50 Leute nach Guben, darunter die Dame mit dem Taxi samt Freundin, und ein
       Ehepaar aus einem der umliegenden Dörfer. Wallstein haben sie auf deren
       Zuhörtour kennengelernt, ihre Namen wollen sie nicht nennen. „Das können
       wir uns auf dem Dorf nicht leisten“, sagt die Frau bestimmt. „Nicht, dass
       wieder Schuhcreme im Briefkasten ist.“ Aber die Maja, die hat sie beide
       überzeugt. „Die hat Herz. Sie belehrt nicht nur, sie will wirklich was
       erfahren.“ Beide werden wohl die SPD wählen. Wegen Maja.
       
       ## Der Aufklärer
       
       „Der Blick ins Gelände ist durch nichts zu ersetzen“, sagt Johannes Arlt.
       Der 40-Jährige ist Soldat durch und durch. Schnittiger Scheitel,
       raspelkurze Seiten, klare Ansagen. Arlt ist Offizier der Luftwaffe,
       Abteilung Drohnenaufklärung. Siebenmal war er in Auslandseinsätzen, viermal
       Afghanistan und dreimal Mali. An diesem nebligen Tag im Januar ist er in
       der Mecklenburgischen Pampa unterwegs, im Haustürwahlkampf
       
       Sein [3][Wahlkreis umfasst die Mecklenburgische Seenplatte und den
       Landkreis Rostock], von der Fläche her der größte Wahlkreis in Deutschland
       und dabei einer der am dünnsten besiedelten. 243.000 Menschen verteilen
       sich über 6.000 Quadratkilometer, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60
       Jahre alt, der Ausländeranteil liegt bei 4 Prozent. Von einem höheren
       Mindestlohn, wie die SPD ihn in ihrem Wahlprogramm fordert, würden hier ein
       Drittel der Erwerbstätigen profitieren.
       
       Arlt und sein Team stehen vor dem Konsum von Hohen Demzin, der seit Sommer
       geschlossen hat. Auch das Dorf scheint menschenleer zu sein. Arlt schaut
       auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 10.26 Uhr, also ein bisschen später als
       geplant.“ Er wendet sich an die drei Wahlkampfhelfer, die im Halbkreis um
       ihn stehen. „Bastian, kannst du Datenerhebung machen? Ich würde rechts der
       Kirche Haustürwahlkampf machen, und das andere Team geht links runter, da
       werfen wir nur Flyer ein. Wir treffen uns dann hier wieder und bewegen uns
       gemeinsam in Richtung des nächsten Ortes.“ Sie teilen sich auf.
       
       Den Kleinbus hat er neben dem Feuerlöschteich geparkt, auf der Kühlerhaube
       prangt ein großer Bundesadler. Der Bus ist ein E-Auto, aber Arlt verzichtet
       auf die äußere Kennzeichnung: „Sonst kommt man mit den Leuten gar nicht ins
       Gespräch.“ Auch bei Arlt würde man nicht auf Anhieb vermuten, dass er als
       Schüler ein Musikgymnasium besucht hat und ursprünglich Geige studieren
       wollte. Dass er drei Firmen gegründet hat, die erste als Schüler. Zugleich
       ist er seit seiner Jugend SPD-Mitglied, weil ihm Solidarität wichtig ist.
       Sein Vater hatte die Partei in der DDR mitgegründet. Er war es auch, der
       ihn dazu überredete, Wehrdienst zu leisten. Arlt blieb dann beim Bund.
       
       Seine Dienstuniform ist derzeit im militärhistorischen Museum in Dresden
       ausgestellt, als Leihgabe. Seit 2021 besteht seine Arbeitskleidung aus Hemd
       und Jackett. Vor dreieinhalb Jahren eroberte er den Wahlkreis von der CDU,
       nun tritt er erneut als Direktkandidat an, und zwar ausschließlich. Nach
       Streit mit seinem Landesverband um die Position auf der Liste verzichtete
       er ganz auf einen Platz: „Sollen die Bürger entscheiden, ob ich meine
       Arbeit gut gemacht habe.“
       
       Mit roter Umhängetasche und einem Packen Zettel in der Hand nähert er sich
       einem Gehöft. Der Schlüssel steckt von außen. „Das ist typisch hier“, sagt
       Arlt, „viele schließen nicht ab.“ Er klingelt. Keiner da. Arlt will
       weitergehen, da kommt ein Mann mit Anorak und Schlappen über den Hof. „Der
       Herr Arlt“, begrüßt er ihn. „Sie kennen mich?“, fragt Arlt und bleibt
       stehen. „Na klar, von der Zeitung“, sagt der Mann in breitem Mecklenburger
       Dialekt. Er arbeitet sonst als Fahrer bei einer Abrissfirma, ist gerade
       krankgeschrieben. Arlt reicht ihm einen Zettel. „Meine Bilanz. Zum Beispiel
       das Krankenhaus in Teterow, das bleibt. Das konnte ich erkämpfen.“ Der Mann
       nickt. „Das ist wichtig.“ Er habe seit Juli 2023 keinen Zahnarzt mehr, seit
       dieser in Rente gegangen und keine Nachfolger gefunden habe.
       
       Dass gerade in ländlichen Regionen Praxen mangels Nachwuchs schließen
       müssen, ist ein gesamtdeutsches Phänomen. In den ostdeutschen
       Flächenländern kommt jedoch noch der Aufstieg der AfD erschwerend hinzu.
       Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte im August davor, dass sich
       ausländische Ärzte „bedanken“ würden, wenn sie in einer AfD-Hochburg
       landeten. In Mecklenburg-Vorpommern hat jede siebte Ärztin einen
       ausländischen Pass. In Umfragen liegt die AfD, die im Wahlprogramm
       „Remigration“ fordert, mit 30 Prozent deutlich vor CDU und SPD.
       
       Wen er wählt, das will der Abrissfahrer nicht verraten. Aber so viel steht
       für ihn fest: „Die AfD darf man nicht ranlassen. Da geht hier alles den
       Bach runter.“
       
       2021 gewann Arlt das Direktmandat mit 31,1 Prozent deutlich vor CDU und
       AfD. Diesmal wird es viel knapper, „wir kämpfen buchstäblich um jede
       Stimme“. Doch er hofft, dass er sich gegen die AfD-Bewerberin durchsetzen
       kann: „Ich komme ja nicht mit leeren Händen. Ich habe einiges vorzuweisen.“
       
       Drei Dörfer weiter klingelt Arlt bei einem Mann, der erzählt, er arbeite
       als Zugbegleiter. Er beschwert sich bei Arlt über die „Migranten“, die
       jeden Tag aus Langeweile mit der Bahn fahren würden, die Frauen
       anquatschten und vor dem Bahnhof abhingen. „Das ist nicht mehr schön“, sagt
       der Mann. Arlt verweist auf die geltende Rechtslage, nach der Asylbewerber
       die ersten Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht arbeiten dürfen.
       „Wir verbieten es ihnen. Wir erziehen die Leute zum Gammeln.“ Vielleicht
       müsse man mal mit der Polizei reden, ein bisschen mehr Präsenz am Bahnhof
       würde womöglich schon ausreichen. Aber er gibt dem Mann auch recht. „Wir
       müssen das Problem in den Griff bekommen.“
       
       Aus dem Wahlkampf versucht Arlt, das Thema Migration rauszuhalten, auch
       wenn er nach den Anschlägen von München und Aschaffenburg häufiger darauf
       angesprochen werde. Er sagt dann, dass er das dänische Migrationsmodell der
       sozialdemokratisch geführten Regierung unterstützt. „Und dafür werde ich
       mich in meiner Partei auch weiter einsetzen.“ Dänemark tut alles, um
       möglichst wenig Asylbewerber:innen ins Land zu lassen, Ankommende
       werden in Sammellagern untergebracht. Und für diejenigen, die Asyl
       bekommen, gilt eine Integrations- und Arbeitspflicht. Arlt ist mit einem
       Dänen verheiratet, er pendelt mit ihm und seinem kleinen Sohn zwischen
       Neustrelitz, Kopenhagen und Berlin.
       
       Arlt verhehlt auch nicht, dass er die Entscheidung der SPD für Olaf Scholz
       als Kanzlerkandidat falsch fand. Er hatte für Verteidigungsminister Boris
       Pistorius geworben. Zu diesem hat er einen guten Draht, hat ihn für den
       Abend zum Bürger:innengespräch nach Teterow eingeladen. Der Saal im
       Kulturhaus ist bis auf den letzten Platz besetzt, 100 Menschen sind
       gekommen.
       
       Vor dem Kulturhaus demonstrieren gleichzeitig etwa 50 Menschen gegen die
       Veranstaltung, das Bündnis Sahra Wagenknecht und diverse Friedensgruppen
       haben dazu aufgerufen. Arlt schnappt sich eine Thermoskanne mit Kaffee und
       Pappbecher und geht raus zu den Demonstranten. „Danke, dass Sie von Ihrem
       Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Darf ich Ihnen was Warmes anbieten?“ –
       „Vorsicht, da ist Blut drin!“, ruft ein weißhaariger Mann.
       
       Drinnen im Saal nimmt Boris Pistorius die eher skeptische Stimmung wahr,
       erzählt als Erstes von seinen Austauschfahrten als Schüler in die damalige
       Sowjetunion, von Russisch als Abiturfach. Und dass er den Job als
       Verteidigungsminister mache, damit die Menschen in Deutschland weiter in
       Frieden leben können. „Wir wollen keinen Krieg“, ruft er. Selbst die
       Skeptischen applaudieren.
       
       ## Die Integrationsbeauftragte
       
       „Was bist denn du für ein süßer Schatz“, fragt die ältere Dame und beugt
       sich verzückt über den Kinderwagen. Hellrosa ist der Wagen, hellrosa ist
       auch der Mantel von Rasha Nasr. Zwei schicke Farbtupfer im Grau des
       nieselkalten Nachmittags. Nasr hat ihre sechs Monate alte Tochter zum
       Wahlkampfstand mitgenommen. Es ging nicht anders, ihr Mann, der sie
       betreuen wollte, ist krank. Aber das entpuppt sich nun als Vorteil. Nasr
       beugt sich verschwörerisch zur Seite: „Die Kleine ist meine beste
       Wahlkampfhelferin“, sagt sie fröhlich in sächsischem Singsang. Der
       kinderlieben Dame drückt sie ein Faltblatt der SPD in die Hand.
       
       Das Einkaufszentrum, vor dem Nasr und die SPD ihren Wahlkampfstand
       aufgebaut haben, ist nur spärlich besucht, einige wenige Menschen bleiben
       stehen und suchen das Gespräch. Kein Wunder: Es ist kalt. Und um vier Uhr
       beginnt es bereits zu dämmern. Ein Wahlkampf mitten im Winter und gegen
       einen Rechtsruck in der Gesellschaft. Gibt es etwas Mühsameres? Rasha Nasr
       lacht. „Ich habe noch keinen Wahlkampf geführt, der nicht mühsam war. Aber
       wir Sachsensozis sind eben dickköpfig.“
       
       Dass Nasr im [4][Wahlkreis Dresden I] das Direktmandat holen wird, ist
       extrem unwahrscheinlich. Der Wahlkreis geht traditionell an die CDU, so
       auch 2021. Aber damals lag die SPD beim Zweitstimmenergebnis knapp vorn,
       erst auf Platz zwei folgte die AfD. 306.000 Menschen wohnen hier, von der
       barocken Altstadt bis zu den Plattenbauten in Prohlis. Ein Viertel der
       Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre, der Ausländeranteil liegt bei 13,6
       Prozent, für Sachsen ist das ungewöhnlich viel. Rasha Nasr selbst ist 32
       und gebürtige Dresdnerin. Ihre Eltern kamen einst aus Syrien in die DDR.
       Die Tochter machte ihr Abitur in Nassau und studierte an der TU Dresden
       Politikwissenschaft. Anschließend arbeitete sie unter anderem als
       Integrationsbeauftragte der Stadt Freiberg.
       
       Der damalige Landesvorsitzende Martin Dulig begeisterte sie 2017 für die
       SPD. Ähnlich wie der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck heute traf Dulig
       damals Menschen am Küchentisch. Sie fand das damals so cool, erzählt Nasr
       beim Kaffee im Center, dass sie in die SPD eintrat, mitten in einer der
       größten Krisen der Partei. Die Sozialdemokraten verloren die Bundestagswahl
       2017 mit ihrem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz mit 20 Prozent,
       ein historisch schlechtes Ergebnis. Dieses Mal könnte es noch schlimmer
       kommen. Mit Nasr kamen vor dreieinhalb Jahren 48 Abgeordnete im Juso-Alter
       in den Bundestag, so viel wie noch nie. Linke SPDler hofften, dass die
       Jungen die Fraktion aufmischen würden, aber es kam anders. Putins Überfall
       auf die Ukraine disziplinierte, außerdem sahen sich viele gar nicht als
       Jusos. Nasr ist bei der reformpolitischen Gruppe der Netzwerker in der
       SPD-Bundestagsfraktion aktiv. Sie habe schnell gelernt, sagt sie, „dass
       Arschbombe aufs Buffet nichts bringt“. Sie wurde stellvertretende
       Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, verhandelte das
       Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit. Dabei habe sie gelernt, wie das
       politische Spiel funktioniere. „Alle lügen. Man muss lernen, die Interessen
       zu lesen.“ Mittlerweile könne sie sicher übers politische Parkett laufen,
       „wenn auch noch nicht tanzen“.
       
       Mit dem dritten Platz auf der Landesliste ist ihr Einzug in den neuen
       Bundestag relativ sicher. Dass sie, wie 2021, acht Abgeordnete aus Sachsen
       sein werden, glaubt Nasr jedoch nicht: „Wenn wir zu fünft wären und
       bundesweit bei 20 Prozent lägen, wäre das schon toll.“
       
       Aber selbst danach sieht es im Moment nicht aus. Vor Weihnachten überfuhr
       ein saudi-arabischer Bürger Hunderte Menschen auf einem Weihnachtsmarkt in
       Magdeburg, im Januar tötete ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber ein
       Kleinkind und einen Familienvater. Im Februar fuhr ein Afghane, der vor
       acht Jahren als Minderjähriger nach Deutschland flüchtete, in München
       absichtlich in eine Gewerkschaftsdemo. Die Fälle lassen sich kaum
       vergleichen, zwei der Täter gelten als psychisch krank, der Magdeburger
       Attentäter stand der AfD nahe, der in München rief islamistische Parolen.
       
       Doch seitdem ist Migration das Top-Thema im Wahlkampf, und auch Nasr und
       ihre Sachsensozis werden im Wahlkampf immer wieder darauf angesprochen.
       „Die einen sagen, es kommen zu viele, wir wollen, dass unsere Kinder wieder
       sicher sind. Die anderen sagen: Bleibt stabil, überlass es nicht allein der
       Linkspartei, für eine humane Asylpolitik zu werben.“
       
       Nasr hat sich entschieden. Sie findet es falsch, dass die SPD versuche, mit
       immer schärferen Gesetzen gegen Asylbewerber vorzugehen. Sie hat Olaf
       Scholz öffentlich dafür kritisiert und im Bundestag gegen [5][das
       Sicherheitspaket der SPD-Innenministerin] gestimmt, das für
       ausreisepflichtige Flüchtlinge keinerlei Sozialleistungen mehr vorsieht.
       Sie sei nicht naiv, habe gar nichts gegen Abschiebungen, sagt sie. Aber das
       sei eben auch nicht die Antwort auf alle Probleme. Sie sieht ihre Partei
       beim Thema Migration vom rechten Zeitgeist getrieben und warnt: „Jedes Mal,
       wenn Parteien der Mitte dort versucht haben, strenger zu werden oder
       Vorschläge von der AfD übernommen haben, hat es nur der AfD in die Hände
       gespielt.“
       
       Doch auch in der migrantischen Community ihrer Eltern verspüre sie den
       Wunsch nach schärferen Gesetzen. „Die Menschen mit Migrationsgeschichte,
       die es geschafft haben, wollen sich stark abgrenzen von denen, die neu
       dazukommen. Da heißt es: Die machen Probleme, die versauen uns den Ruf.“
       
       Es sei schade, sagt sie, dass Deutschland nicht den Anspruch habe, die
       Gesellschaft so weiterzuentwickeln, dass sich möglichst viele Menschen als
       Teil dieses Landes sehen. Stattdessen versuche man seit Jahrzehnten, die
       Grenzen möglichst eng zu ziehen.
       
       Nasr weiß, wohin es führt, wenn „Fremde“ vor allem als Problem betrachtet
       werden. Als sie im Sommer hochschwanger im Supermarkt einkaufte, habe ein
       Mann versucht, ihr seinen Einkaufswagen in den Bauch zu rammen. „Dann sind
       wir dich und dein Balg endlich los“, zischte er. Sie war so geschockt, dass
       sie nicht mal Anzeige erstattete. Es war nicht das erste Mal, dass sie
       bedroht wurde. Sie hat deshalb mit ihrem Team einen Selbstverteidigungskurs
       gemacht. „Da haben wir gelernt, wie man sich groß machen kann.“
       
       Die Anfeindungen hinterlassen ein bitteres Gefühl. Nasr hofft, dass die
       Bundestagswahl glimpflich ausgeht, auch für ihre Partei. Und dass die SPD
       danach wieder knallhart auf Sozialpolitik setzt.
       
       21 Feb 2025
       
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