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       # taz.de -- Wahlkampf im Rückblick: Demos, Tiktok und der große Tabubruch
       
       > Der Wahlkampf war kurz, kalt und hart. Auch hinter dem Wahl-Team der taz
       > liegt eine intensive Zeit. Neun Momente, die uns besonders bewegt haben.
       
   IMG Bild: Entsetzen über den Tabubruch: Demonstration für eine Brandmauer in Berlin
       
       ## Killerviren und Freiheit
       
       Es ist einer dieser fiesen Winterabende in Berlin. Vor dem Kulturhaus
       Karlshorst brüllen Antifas. Im Saal müssen sich die Direktkandidaten für
       den Bezirk Berlin-Lichtenberg den Fragen der Bürger stellen. Der Andrang
       ist groß. Rein kommt nur, wer nachweisen kann, dass er Lichtenberger ist
       und die sechs Direktkandidaten auf dem Podium auch wählen darf. Die Fragen
       reichen von der Begrünung der Innenhöfe über angeblich manipulierte
       Killerviren bis zur recht großen Frage: Was ist Freiheit für Sie? Und auf
       all das müssen die Kandidaten spontan antworten. Wie toll! Als die
       Veranstaltung vorbei ist, steht Beatrix von Storch am Rande der Bühne. Sie
       ist der Grund, warum heute die Antifa kam. Sie will der
       „Mauermördernachfolgepartei“ „den Stecker ziehen“, [1][der Linken das
       Direktmandat abnehmen]. Bei der letzten Wahl trat von Storch noch in
       Berlin-Mitte an. Aber am Zionskirchplatz gebe es ja nur ein halbes Dutzend
       AfD-Wähler, erzählt sie, und zwei davon wären sie und ihr Mann. Es ist
       Montagabend, zwei Tage vor dem Tabubruch im Bundestag. Noch glaubt die CDU,
       dass die AfD nicht für ihren asyl- und europarechtsfeindlichen Antrag
       stimmt, weil sie sich im Antragstext von den Rechtsextremen distanziert.
       Beatrix von Storch sagt: „Die können da drei Mal reinschreiben, die AfD
       ist doof. Das stört uns nicht.“ Kersten Augustin
       
       ## Nichtwählerin in Uniform
       
       Sonntagnachmittag, drei Wochen vor der Bundestagswahl. Den riesigen
       Bundeswehrrucksack geschultert, steht Lena am Bahnhof. Uniform und
       Schirmmütze hat sie auch an. Die 17-Jährige ist auf dem Weg zu ihrer neuen
       Einsatzstelle. Welche Partei sie wählen würde, wenn sie schon wählen
       könnte? (Straßenumfrage unter allen, die hier irgendwie jung aussehen) „Ich
       bin für Gerechtigkeit“, erklärt Lena. Und ihr gefielen die Videos von
       dieser Frau mit dem kurzen Pony. [2][Heidi Reichinnek]? „Ja genau!“
       Soldatin darf man mit 17 also schon sein, wählen aber leider noch nicht.
       Aber bei der nächsten Bundestagswahl bekommt die Linke ihre Stimme.
       Franziska Schindler
       
       ## Mehr Neubürger, bitte!
       
       Vieles in diesem Wahlkampf war vor allem eins: frustrierend. Was eh schon
       nicht sehr progressiv angefangen hatte, wurde mit jeder Rechtsdrehung des
       Diskurses noch schlimmer. Und dann, kurz vor Schluss, eine Meldung des
       [3][Mediendienstes Integration]: Mehr als eine halbe Million
       Neueingebürgerte können in diesem Jahr erstmals an einer Bundestagswahl
       teilnehmen. Mehr als 12 Millionen Menschen leben hier ohne deutschen Pass.
       Mehr als 5 Millionen davon schon seit über zehn Jahren – wählen dürfen sie
       nicht. Dass es sie sehr direkt betrifft, das hat dieser Wahlkampf mit all
       seinen Aussagen zur Begrenzung von Migration und Flucht gezeigt. Umso
       besser, dass der Großteil der nun eingebürgerten Menschen sind, die aus
       Syrien geflüchtet sind. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht (danke,
       Ampel!) werden die Einbürgerungen hoffentlich weiter steigen. Denn seien
       wir ehrlich: Eine halbe Million in dreieinhalb Jahren ist ein Anfang – aber
       immer noch viel zu wenig. Dinah Riese
       
       ## Bitcoins? LOL
       
       Wer das Frankfurt-Büro der ehrwürdigen Financial Times leitet, muss
       nüchtern auftreten. Zumindest erwarte ich das, als ich Olaf Storbeck auf
       LinkedIn folge. Aber Storbeck – kurze bis gar keine Haare, Hemd, Jackett –
       trägt schon auf seinem Profilbild ein schelmisches Grinsen im Gesicht.
       Tatsächlich: Nichts hat mich in diesem Wahlkampf so amüsiert wie Storbecks
       unbeschwert-verzweifelte Kommentare auf LinkedIn. Mehr als 20 Jahre
       Erfahrung als Wirtschaftsjournalist, unter anderem beteiligt an der
       Aufdeckung des Wirecard-Skandals – und dann kommentiert er unter eine
       Auflistung der Erfolge der FDP prägnant: „LOL“. Christian Lindner fordert
       Bitcoins in Bundesbank und Europäischer Zentralbank: „LOL“. Ein Post über
       die politischen und persönlichen Implikationen von Alice Weidels weißen
       ON-Laufschuhen: „Ich trage als Zeichen passiven Widerstands SCHWARZE
       Laufschuhe von ON!!“ Kürzlich hat Storbeck per Brief gewählt. „Ich bin
       froh, dass ich das mental abhaken kann und diesen Wahlkampf-Schwachsinn von
       allen Seiten nicht mehr ernst zu nehmen brauche“, schreibt er. Lieber Herr
       Storbeck: ich auch. Jonas Waack
       
       ## AfD liefert wie bestellt
       
       Die AfD hatte in den letzten Wochen viele Wahlkampfhelfer: Den
       Digital-Oligarchen Elon Musk, den Springer-Verlag, Viktor Orbán,
       US-Vizepräsidenten J. D. Vance und am Ende sogar unverhofft den CDU-Chef
       Friedrich Merz, der nach dem Messerangriff von Aschaffenburg ankündigte,
       rassistische Migrationsanträge auch mit Stimmen der AfD durchbringen zu
       wollen – obwohl er zuvor das Gegenteil behauptet hatte. Die AfD lieferte
       wie bestellt und war damit erstmals im Bundestag Mehrheitsbeschaffer, was
       zu [4][Jubelstürmen, Applaus und Hybris] bei den Rechtsextremen führte.
       Merz entschuldigte sich kleinlaut am Rednerpult, während die Rechtsextremen
       johlten, im Plenum Selfies machten und sich über die schlotternden Knie von
       Merz lustig machten. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd
       Baumann, verkündete danach sinngemäß das Tausendjährige Reich: „Das
       bedeutet das Ende der rot-grünen Dominanz in Deutschland – für immer! Jetzt
       und hier beginnt eine neue Epoche und das führen wir an. Sie können folgen,
       Herr Merz, wenn sie noch die Kraft dazu haben!“ Gareth Joswig
       
       ## Jugend am Ball
       
       Von einer D-Day-Ablaufpyramide der FDP über einen Herrn Merz, der bei „Ein
       Herz für Kinder“ 100 Euro pro gewonnenem CDU-Prozentpunkt spenden möchte
       und einer Frau Weidel, die Elon Musk erzählt, [5][Hitler sei ein Kommunist]
       gewesen. Dieser Wahlkampf hat so einige Momente generiert, die einem
       Fiebertraum glichen. Eines muss man den Protagonist*innen jedoch
       lassen: Sie haben die jungen Menschen am Ball gehalten. Nicht etwa mit
       jungen Themen – das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Nein: Mit einer
       skurrilen Aussage nach der anderen lieferten sie sich einen spektakulären
       Wettbewerb um das beste Meme-Material. Mein liebster Moment des Wahlkampfs
       war jeder, in dem ich Instagram geöffnet habe und nicht wusste, ob ich
       lachen oder weinen soll angesichts der neuesten kuriosen Entwicklung. Sarah
       Schubert
       
       ## Mitbewohner Gregor
       
       Wenn ich dieser Tage TikTok öffne, sehe ich in 9 von 10 Fällen ihn. Den
       Linken-Politiker, der zum TikTok-Phänomen geworden ist, zum [6][Star einer
       jungen, linken Fangemeinde] und zum gefeaturten Künstler diverser
       Technotracks. Nein, es ist nicht Heidi Reichinnek, es ist Dr. Gregor Gysi.
       Egal, ob er auf Wahlkampfveranstaltungen zum Track „Verfassungsschutz“ –
       eine Technohommage an seine Rede zur Rolle des Verfassungsschutzes in Bezug
       auf den Rechtsterrorismus – tanzt oder sich mit Sturmmaske und den Worten
       „Hey Süßis“ an seine Community wendet – Gregor Gysi lebt mietfrei in meinen
       Unterhaltungsmedien und mittlerweile auch in meinem Kopf. Die Eleganz bei
       dieser Selbstironie, die Gelassenheit bei diesem teilweise explosiven,
       teilweise ungenießbaren Wahlkampf ist mindestens bemerkenswert. Annika Reiß
       
       ## Gedenken und Gedanken
       
       Am Samstag bin ich mit meinem Opa und zwei Freunden in Buchenwald gewesen.
       Den halben Tag in der Gedenkstätte zu verbringen, war überwältigend –
       gerade so kurz vor dieser entscheidenden Bundestagswahl. Zurück in Weimars
       Stadtzentrum, waren wir überrascht mit Carsten Schneider (SPD), Katrin
       Göring-Eckardt (Grüne) und Bodo Ramelow (Linke) absolutes Spitzenpersonal
       auf so engem Raum anzutreffen. Gerade letzterer erfreut sich in Thüringen
       ja einer durchaus hohen Beliebtheit. Und in der Tat, es war ein sehr
       angenehmes Gespräch mit ihm. Statt Kugelschreibern (SPD) und Saatgut
       (Grüne) gab es bei den Linken Gummibärchen. Fridolin Haagen
       
       ## Großes Tennis!
       
       Ein Bild auf Whatsapp. „Wir sind 250.000“, schreibt ein alter Freund aus
       München zu einem Foto von der Demo für Demokratie auf der Theresienwiese.
       Kurz darauf korrigiert er die Zahl nach oben auf 320.000. Ein Lichtblick im
       finsteren Bayern. Er ist stolz auf seine Stadt und heilfroh, dass er nicht
       alleine ist mit seinem Ekel vor den Rechten. Auf Social Media läuft derweil
       [7][der vielleicht schönste Wettbewerb des Jahres], bei dem sich keiner
       ärgert, wenn ein anderer eine höhere Zahl nennt. Großes Tennis! Man addiert
       einfach und weiß genau, wie viel die Zahl aus Chemnitz wert ist, auch wenn
       sie nicht so hoch ist wie an anderen Orten: 1.000 haben sich da einer
       rechten Demo in den Weg gestellt. Haufenweise Zahlen werden ins Netz
       geworfen – und Ortsnamen, 7.000 in Kassel, Bonn und Oldenburg. 20.000 in
       Regensburg, 12.000 in Augsburg und mehr als 40.000 in Stuttgart. Am Ende
       des Wahlkampfes müssen sich Pro-Demokratie-Demonstranten von CDU-Chef
       Friedrich Merz dann noch beleidigen lassen als Spinner und solche, die
       nicht alle Tassen im Schrank haben. Sie sollten es als Kompliment nehmen.
       Andreas Rüttenauer
       
       23 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] /Weidel-Wagenknecht-und-Hitler/!6064499
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