URI: 
       # taz.de -- Nach dem Assad-Regime in Syrien: Die Leichen im Keller
       
       > In einem Gebäude bei Damaskus sortieren Weißhelm-Mitarbeiter Überreste
       > mutmaßlich vom Regime Ermordeter. Ob sie je identifiziert werden, ist
       > fraglich.
       
   IMG Bild: Weißhelm-Mitarbeiter beim Sortieren grausiger Funde in einem Keller bei Damaskus
       
       Damaskus taz | Es ist gar nicht so leicht, den Ort des Verbrechens im Süden
       von Damaskus zu finden. Google Maps zeigt Straßen an, die nicht mehr
       existieren, weil sie im 13-jährigen syrischen Bürgerkrieg verschüttet
       wurden unter den Trümmern der zerbombten Häuser – und bis heute nicht
       geräumt wurden.
       
       Kurz zuvor hatte jemand von der gerichtsmedizinischen Einheit der
       [1][syrischen Weißhelme] in Damaskus angerufen. Sie seien auf dem Weg nach
       Sbenah im Süden der syrischen Hauptstadt. Dort sei ein grausiger Fund
       gemeldet worden: die verbrannten Knochen einer Familie in einem
       Kellergewölbe. Wahrscheinlich seien sie Opfer des notorischen
       Sicherheitsapparates [2][des gestürzten Diktators Baschar al-Assad.]
       
       Der Ort des Fundes war einst – wie ein Großteil der Umgebung von Damaskus –
       unter Kontrolle der Rebellen. Von 2012 an hatten diese immer mehr Gebiete
       eingenommen, als Antwort darauf wurden die Vororte massiv vom Regime
       bombardiert. Erst im November 2013 gelang es den Regimetruppen mit Hilfe
       der russischen Luftwaffe, die Kontrolle zurückzugewinnen. Und dann begannen
       die politischen Säuberungsaktionen.
       
       Nun ist [3][das Regime Assad seit Monaten Geschichte], aber ihre Verbrechen
       verfolgen die Menschen bis heute. Jeden Tag machen sie neue grausame
       Entdeckungen: Eine kleine Menschenmenge und zwei Fahrzeuge mit dem Emblem
       der Weißhelme, dem einstigen Rettungsdienst in den Rebellengebieten,
       versammeln sich vor einem unbewohnten Gebäude. Statt wie während des
       Krieges Überlebende aus den Trümmern zu bergen, decken sie heute die
       Verbrechen der Vergangenheit auf. 150.000 Menschen gelten bis heute als
       vermisst: Das Regime hatte sie festgenommen und nie wieder gehen lassen.
       
       ## Die Knochen werden nach Größe auf Haufen gestapelt
       
       Es geht in den ausgebrannten Keller des Hauses. Fünf Mitarbeiter der
       Weißhelme sammeln verkohlte Knochen ein. Ihre Arbeit geht langsam voran:
       Sie stapeln die Knochen zu einzelnen Haufen – je nachdem, wo sie gefunden
       wurden. Und je nachdem, wie groß sie sind – ob sie zu einem Erwachsenen
       oder zu einem Kind gehören. Die Weißhelme tragen weiße Schutzkleidung,
       Handschuhe und Masken, um den Tatort nicht zu kontaminieren.
       
       „Als wir hier ankamen, haben wir die sterblichen Überreste einer Familie
       gefunden: Kinder, Frauen und Männer, die hier exekutiert worden sind.
       Oberschenkel und Schädelknochen weisen Frakturen auf. Diese Menschen waren
       massiver Gewalt ausgesetzt“, beschreibt Ammar Al-Salmo, Leiter der
       Forensik-Einheit der Weißhelme, den Fund.
       
       Nach ersten Zeugenaussagen seien die Menschen bereits vor zehn Jahren von
       Assads Sicherheitsapparat getötet wurden, erzählt er. „Es gibt hier überall
       Überreste von verbrannten Autoreifen. Sie haben offenbar die Leichen in die
       Reifen gesteckt und die dann angezündet. Außer einem DNA-Vergleich gibt es
       damit keine Chance, diese Menschen zu identifizieren“, sagt Al-Salmo.
       
       Sie probieren es dennoch: „Wir versuchen die Knochen einzelnen Individuen
       zuzuordnen. Aber manchmal liegen die Beckenknochen in einer Ecke und die
       Schädel in einer anderen. Es würde viele Stunden dauern, das genau
       zuzuordnen. Wir haben nicht genug Zeit und Personal, um das zu leisten“,
       klagt der Weißhelm-Leiter.
       
       ## „Solche Szenen dürfen sich in Syrien nie wiederholen“
       
       Nachdem sie am Boden die Häufchen mit den Knochenresten gebildet haben, die
       auf den ersten Blick zusammengehören, packen sie ein: Jeder Tote bekommt
       seine eigene weiße Kiste. Und jede Kiste bekommt Buchstaben und Nummern.
       
       „Jeder von uns hätte hier als Nummer enden können, als Opfer des
       Sicherheitsapparates, an einem Checkpoint des Militärs oder verhaftet in
       einem der Quartiere der Geheimdienste. Vielleicht nur, weil ihnen nicht
       gefiel, wie du aussiehst“, blickt Al-Salmo zurück.
       
       „Wir versuchen hier eine Art von Gerechtigkeit herzustellen. Wir wollen,
       dass sich solche Szenen wie vor zehn Jahren in diesem Keller nie wieder in
       Syrien wiederholen“, sagt er. Die Kisten kommen in ein forensisches Labor.
       Dass ihre Inhalte tatsächlich per DNA-Analyse identifiziert werden können,
       ist aber unwahrscheinlich.
       
       Und während Al-Salmo spricht und seine Kollegen noch weitere Knochen
       zusammensuchen, blickt eine Gruppe Kinder neugierig von oben durch das
       Kellerfenster. Was hier geschieht, brennt sich auch in das kollektive
       Gedächtnis der nächsten Generation ein. Draußen, vor dem Gebäude, steht
       Mohammed Shubat, der in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Er war es,
       der den Behörden den Fund gemeldet hat.
       
       Er blickt auf die Kinder am Kellerfenster: „Selbst Erwachsene sollten so
       etwas nicht sehen, ganz zu schweigen von den Kindern. Wir hoffen, dass die
       Erwachsenen und die Kinder nie wieder solche furchtbaren Regime-Zeiten
       erleben“, sagt er. Wer die Toten im Keller sind, weiß auch er nicht. Er
       erinnert sich aber daran, dass al-Assads Sicherheitsapparat immer wieder
       Verhaftete aus anderen Vierteln hierher brachte und in die Keller der
       unbewohnten Gebäude einsperrte.
       
       ## Wieder ruft jemand an und meldet einen neuen Fund
       
       Als im Keller schließlich alles zusammengepackt ist, bringen die Weißhelme
       Kiste für Kiste nach oben und packen sie in eines ihrer Fahrzeuge. Nach
       getaner Arbeit ziehen sie ihre Schutzanzüge, Handschuhe und Masken aus. Sie
       werfen sie auf die Straße und zünden alles mit einem Feuerzeug an. Die
       Nachbarn und Kinder stehen im Kreis um sie herum und sehen zu, wie das
       Plastik vor sich hinschmaucht.
       
       Al-Salmo zieht Bilanz: „Jeden Tag dokumentieren wir solche Fälle [4][von
       nicht identifizierten Leichen]. Besonders Damaskus ist ein einziges
       Massengrab. Es wird Jahre dauern, die volle Wahrheit aufzudecken“. Dann
       steigen die Weißhelme in ihre Fahrzeuge. Nicht weit von hier wartet weitere
       Arbeit auf sie. Es hat wieder jemand angerufen – und einen neuen Fund
       angezeigt.
       
       18 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-den-Erdbeben-in-Syrien/!5911015
   DIR [2] /Ende-des-Assad-Regimes/!6051443
   DIR [3] /Eindruecke-aus-der-syrischen-Hauptstadt/!6052402
   DIR [4] /Massengraeber-in-Syrien/!6056723
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Baschar al-Assad
   DIR Weißhelme
   DIR Damaskus
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Syrien nach dem Sturz von Assad: Der große Horror
       
       Anfang März wurden bei einem Massaker in Syrien hunderte vorwiegend
       alawitische Zivilisten getötet. Die Überlebenden sammeln nun selbst Belege.
       
   DIR Übergangsregierung unter Druck: Syriens prekäre Fronten
       
       Die Übergangsregierung in Damaskus will die Grenzen zum Libanon, zur Türkei
       und zu Israel schützen. Mit dem Libanon gibt es eine Einigung.
       
   DIR Neue Regierung in Syrien: Lieber doch keine Frau als Gouverneurin
       
       Muhsina al-Mahithawi sollte Gouverneurin des drusisch geprägten Suweyda
       werden – im Amt ist sie bis heute nicht. Frauen und Minderheiten werden
       kaum berücksichtigt.
       
   DIR Politischer Prozess in Syrien: Erste Schritte Richtung Übergang
       
       Während bei einer Hilfskonferenz in Paris Geberländer über Syriens
       Wiederaufbau sprechen, legt Übergangschef al-Scharaa politische
       Grundsteine.
       
   DIR Dichterin Asma Kready über Damaskus: Ich schreibe über Damaskus wie jemand, der im Dunkeln malt
       
       Die Sehnsucht nach meiner Heimat Syrien drückte ich Ende 2022 in einem
       Gedicht aus. Jetzt, nach dem Sturz des Assad-Regimes, ist alles offen.