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       # taz.de -- Rückblick auf 110 Tage Wahlkampf: Zwischen Desaster und Hofnarr
       
       > Der Bundestagswahlkampf hat ganz Deutschland beschäftigt, Berlin aber
       > ganz besonders. Ein Rückblick auf turbulente Monate.
       
   IMG Bild: Nicht nur, weil das Reichstagsgebäude dort steht, hat Berlin eine besondere Rolle im zu Ende gehenden Bundestagswahlkampf gespielt
       
       Einhundertzehn Tage sind am Wahlsonntag seit jenem 6. November 2024
       vergangen, an dem die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene bloß noch
       Geschichte war. 110 Tage, die zu 110 Wahlkampftagen wurden. Das galt
       deutschlandweit. Aber Berlin ist gefühlt und tatsächlich eine Stufe mehr
       involviert gewesen.
       
       Klar, ließe sich sagen, ist ja auch die Hauptstadt, hier ist der Bundestag,
       in dem es vor allem jene bislang einmalige Abstimmung gab, in der sich nur
       dank AfD-Stimmen eine Mehrheit ergab. Doch Berlin war weit über Kanzleramt
       und sonstige Machtzentren hinaus prägend in diesen etwas mehr als drei
       Monaten.
       
       So nahm Mitte Dezember hier das seinen Ausgang, was mutmaßlich bis zur Wahl
       Thema geblieben wäre, hätte nicht das gemeinsame Abstimmen von CDU und AfD
       viele andere Aufreger verdrängt: die Affäre Gelbhaar.
       
       ## Die Gelbhaar-Affäre
       
       Beim Landesparteitag der Berliner Grünen [1][informierte der Pankower
       Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar] per Mail darüber, dass es Vorwürfe
       gegen ihn gebe und er seine Kandidatur für die Landesliste der Partei
       zurückziehe. Erst zwei Wochen zuvor hatte ihn sein Kreisverband mit über 98
       Prozent Zustimmung wie 2017 und 2021 zum Direktkandidaten gewählt.
       
       Es begann eine Geschichte von Lügen und Intrigen und irritierender
       Berichterstattung. Gelbhaar verlor bei einer Neuabstimmung des
       Kreisverbands seine Direktkandidatur. Die taz titelte am 21. Januar: „Ein
       Fall. Ein Wort. Desaster“. Bundesweit standen die Grünen als Partei da, in
       der etwa eine führende CDU-Politikerin ein „brutales Hauen und Stechen“ im
       direkten Umfeld von Kanzlerkandidat Robert Habeck sah.
       
       Durch die plötzlich alles dominierende Brandmauerdebatte kam die Partei um
       Antworten herum – letztliche Aufklärung durch eine vom Bundesvorstand
       angekündigte Kommission steht noch aus.
       
       ## Der herabgewürdigte Kultursenator
       
       Eineinhalb Wochen vor der Wahl schließlich rückt wieder ein Berliner
       Politiker ins Zentrum der Aufmerksamkeit, diesmal ein Senator.
       Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bestätigt, bei einer privaten Feier in der
       Hauptstadt im Zusammenhang mit Joe Chialo, Berliner Kultursenator und
       bundesweit erster schwarzer CDU-Landesminister, [2][den Begriff „Hofnarr“
       gebraucht zu haben].
       
       Rassismus-Vorwürfe werden laut, denen Scholz widerspricht. Chialo selbst
       schreibt am Morgen nach Bekanntwerden des Vorfalls in einer Erklärung, er
       halte Scholz nicht für einen Rassisten: „Daran, dass seine Worte
       herabwürdigend und verletzend waren, ändert dies jedoch nichts.“
       
       [3][Die Umfragewerte sowohl von Grünen als auch von SPD] beeinflussen beide
       Themen allerdings nicht nennenswert. Wobei Experten zufolge so viele
       Wahlberechtigte wie nie zuvor bis in diese Woche hinein noch unentschieden
       gewesen sind.
       
       ## Nachwirkungen und Nachbereitungen
       
       Gut möglich ist, dass Chialo nach der Bundestagswahl die Ebene wechselt.
       Der mögliche künftige Kanzler Friedrich Merz von der CDU wird die Nachfolge
       der bisherigen Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen regeln
       müssen, falls die nicht doch als Koalitionspartner gebraucht werden.
       
       Diesen Posten mit Chialo zu besetzen, [4][der in Berlin schon im gleichen
       Feld tätig ist], ist fachlich naheliegend – und wäre emotional ein klares
       Zeichen an den dann gewesenen Bundeskanzler Scholz, wie daneben seine
       Wortwahl war.
       
       Die aktuell noch mitregierenden Grünen wiederum werden auch ohne
       Regierungsjobs in der Pflicht sein, Stefan Gelbhaar für den Verlust seines
       Bundestagsmandats zu entschädigen. Auch wenn andere Themen den Umgang mit
       ihm nach hinten haben rücken lassen: Mit einem bloßen „Sorry“ für die
       Vorgänge in der Partei ist es nicht getan.
       
       21 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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   DIR Stefan Alberti
       
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