URI: 
       # taz.de -- Sprachwissenschaftler über German Angst: „Die Angst vor Krieg lähmt uns“
       
       > Warum fürchten sich Deutsche vor Veränderung? Ulrich Hoinkes über
       > Angstkultur, politische Manipulation und die Wahrnehmung der Klimakrise.
       
   IMG Bild: In ihrem Fall wurde die Angst produktiv: Jugendliche auf einer Fridays-for-Future-Demonstration in Berlin 2019
       
       taz: Herr Hoinkes, Deutsche gelten angeblich als [1][besonders furchtsam].
       Es gibt dafür sogar einen Begriff: German Angst. Haben wir die Angst
       erfunden? 
       
       Ulrich Hoinkes: Nein, wir haben die Angst nicht erfunden. Aber Ängste
       unterscheiden sich auf nationaler Ebene. Das hat mit den verschiedenen
       kulturellen Hintergründen zu tun. In Problemlagen gibt es unterschiedliche
       Hoffnungsträger und Tabuthemen. Dabei zeigt sich durchaus eine spezifisch
       deutsche Angst. Aber es gibt auch eine englische oder eine französische
       Angst, wenn Sie so wollen. Nur sind sie nicht so prominent geworden, weil
       die Deutschen ihre Form der Angst ein bisschen stärker in den Diskurs
       gebracht haben, auf verschiedenen Ebenen.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Hoinkes: Wir haben einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Angst in
       der westlichen Welt geleistet. Etwa mit der Prägung des Existenzialismus
       durch den Philosophen Martin Heidegger. Im europäischen Existenzialismus
       sind spezifische Angstvorstellungen weitergetragen worden, und das ist eine
       weltanschauliche Perspektive, an der wir großen Anteil haben. Es gibt auch
       eine wirtschaftliche Schiene, in der sehr stark über Angst gesprochen wird.
       
       So habe ich etwa das Problem, dass ich den Begriff „Anxiety Culture“, unter
       dem unser Forschungsprojekt läuft, schlecht ins Deutsche übersetzen kann.
       Der Begriff der „Angstkultur“ ist in Deutschland sehr früh mit einem
       angstbehafteten Verständnis von Unternehmenskultur belegt worden, in dem zu
       wenig Mut und Innovationsbereitschaft, stattdessen aber hierarchischer
       Druck und Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes vorherrschen. Die
       Deutschen haben unglaublich viel Angst vor Veränderung, und diese Angst
       lähmt sie.
       
       taz: Seit 2015 bauen Sie das Projekt „Anxiety Culture“ an der Universität
       Kiel auf. Was ist eine Ihrer zentralen Erkenntnisse? 
       
       Hoinkes: Unsere Beobachtungen, gerade bei [2][jungen Menschen], zeigen,
       dass viele Entwicklungen in unserer Welt als gefahrvoll wahrgenommen
       werden. Allein im letzten Jahrzehnt haben sich größere Bedrohungen wie
       Terrorismus, Migration, Klimakrise, Pandemie und politische Instabilität
       aneinandergereiht. Zuletzt der Ukrainekrieg und die Entwicklungen in den
       USA. Das Problem: Wir haben nur eine begrenzte Aufmerksamkeit und können
       uns immer nur auf einen dieser Gefahrenbereiche konzentrieren. Doch die
       anderen Probleme gehen so nicht weg, es bleibt das Empfinden von ungelösten
       Polykrisen.
       
       taz: Sie sagen, die heutige Angstkultur ist ein junges Phänomen. Liegt es
       auch daran, dass es mehr Gründe für Ängste gibt als früher? 
       
       Hoinkes: Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben eine andere Qualität
       als früher. Die Komplexität der Welt hat zugenommen, die Probleme
       erscheinen de facto kaum lösbar und wir leiden stärker an
       Vertrauensverlust. Das schlägt insbesondere auf die junge Generation durch.
       Aber man muss auch sagen: Die Angst war immer schon Begleiter menschlicher
       Kultur und hat sie vorangebracht. Dass wir im Moment ängstlich sind,
       vielleicht sogar besonders stark, ist grundsätzlich gar nicht so schlecht.
       
       Ich wehre mich zu sagen, dass Angst im öffentlichen Raum immer ein
       schlechter Ratgeber ist. Natürlich brauchen wir auch Mut und Zuversicht,
       aber woraus entwickelt man sie? Es ist eine scheinbare Paradoxie. Man
       entwickelt sie aus Angstszenarien und angemessenen Lösungsstrategien. Angst
       und Zuversicht sind quasi Dichotomien in dieser Situation. Gerade wenn wir
       die Überzeugung, es zu schaffen, aus dem Gefühl der Angst und Unsicherheit
       entwickeln, können wir uns wieder stark fühlen.
       
       taz: Sie nennen in Ihrer Forschung die Klimaangst als Beispiel dafür, wie
       Ängste zu Veränderung führen können. Wie kann man sich das vorstellen? 
       
       Hoinkes: Greta Thunberg sagte: „I want you to panic“, um proaktives Handeln
       zu motivieren, statt passiv auf die ökologischen Folgen der Erderwärmung zu
       warten. Angst kann einen positiven, mobilisierenden Effekt haben.
       
       taz: Die Klimabewegung und ihre Ziele sind aber momentan eher in den
       Hintergrund geraten. Reicht Angst allein da nicht aus? 
       
       Hoinkes: Vor die Klimaangst schieben sich derzeit andere Ängste. Wenn wir
       nicht aufpassen, ist das wie auf einem Jahrmarkt der Gefühle. Viele
       Politiker sind daran interessiert, zu gegebener Zeit bestimmte Ängste
       besonders zu schüren. Man kann das den Politikern nicht einmal unbedingt
       vorwerfen, weil sie eben spezielle Interessen vertreten und umsetzen
       wollen. Doch diese Manipulation ist für unsere gesellschaftliche
       Entwicklung meist kontraproduktiv.
       
       taz: Wie sollten Politiker stattdessen mit Ängsten in der Bevölkerung
       umgehen? 
       
       Hoinkes: Es ist eine der größten Aufgaben, die Angstkultur als westliche
       Zivilisationserscheinung anzuerkennen. Die Bedrohungen besonnen
       wahrzunehmen, aber nicht daran zu verzweifeln. Es bedeutet, dass wir, um
       aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit herauszukommen, zum Teil radikale
       Veränderungen brauchen. Diese Radikalität, die in Deutschland leider oft
       negativ bewertet wird, müssen wir fördern, um in diesen schwierigen Zeiten
       etwas zu verändern. Da setze ich besonders auf die jüngere Generation und
       auf die Frauen, die meiner Meinung nach oft eher dazu bereit sind, aus
       berechtigter Sorge heraus umzudenken.
       
       taz: In Deutschland erleben wir nach langer Zeit der Demilitarisierung nun
       ein Umdenken in der Politik. Auch die Debatte über eine Wehrpflicht wird
       wieder geführt. Das versetzt viele junge Menschen in Sorge. Wie soll man
       mit der Angst vor Krieg umgehen? 
       
       Hoinkes: Für mich ist die Klimaangst, unter der besonders jüngere Menschen
       leiden, eine sinnvolle und reale Angst, die Angst vor einem Krieg in
       Deutschland momentan dagegen nicht. Aus den Sorgen über den Klimawandel
       kann eine Motivation für Veränderung entstehen. Die Angst vor Krieg – und
       sie ist in unserer westlichen Welt automatisch eine Angst vor dem Atomkrieg
       – lähmt uns dagegen eher, denn wir können die tatsächlich gegebene
       Bedrohung kaum adäquat einschätzen. Wir müssen uns im Rahmen der „Anxiety
       Culture“ fragen, ob es wirklich um eine Angst vor dem nächsten Krieg geht
       oder eher um die Sorge vor den Auswirkungen einer neu zu definierenden
       globalen Weltordnung, in der militärische Abschreckung leider wieder zu
       einem größeren Thema wird.
       
       Es ist wichtig, sich mit Fragen der Verteidigung zu beschäftigen. Wenn wir
       die derzeitige Lage ernst nehmen – und das sollten wir tun –, heißt es noch
       lange nicht, dass wir auch neue Ängste entwickeln müssen. Wir diskutieren
       bereits über unsere Sicherheit, das ist ein guter und wichtiger Schritt.
       Wesentliche Entscheidungen über mehr Militärausgaben oder eine Stärkung des
       Heeres sollten aber in diesem Prozess aus Besonnenheit, nicht aus Panik und
       mangelnder Informiertheit heraus getroffen werden.
       
       12 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Autor-ueber-Angst/!6048878
   DIR [2] /Shell-Jugendstudie-2024/!6039878
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Zejneli
       
       ## TAGS
       
   DIR Angst
   DIR Manipulation
   DIR Populismus
   DIR Gendern
   DIR Schwerpunkt USA unter Donald Trump
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sozialwissenschaftlerin über das Gendern: „Ein Feindbild, das Ängste vor Veränderungen bündelt“
       
       Juliane Lang erklärt die Angst vor gendergerechter Sprache: Wenn die einen
       ihre Identität leben dürfen, fürchten die anderen, ihre zu verlieren.
       
   DIR Krieg in der Ukraine: Keine Angst vor Trump und Putin
       
       Die Angst in Europa vor den erratischen Entscheidungen Trumps und Putins
       wächst. Doch das ist falsch. Europa muss jetzt geeinter denn je auftreten.