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       # taz.de -- Werkschau zu Künstler Ahmet Güneştekin: Bunte Verpackung
       
       > Dem Künstler Ahmet Güneştekin ist im Istanbuler Museum Feshane die große
       > Werkschau „Lost Alphabet“ gewidmet. Trotz seiner Kritik am türkischen
       > Staat​.
       
   IMG Bild: Wenn die Namen von Verschwundenen knallbunt wieder auftauchen: „Disappeared Language“ von Ahmet Güneştekin
       
       Ein großes B, ein kleines m, ein umgedrehtes X, auf einen dreieckigen
       Marmorsockel getürmt. Bei „Angels of Alphabet“, der großen Skulptur am
       Eingang des Museums Feshane in Istanbul, verstehen die Besucher:innen
       rasch, worum es geht. Ahmet Güneştekin, der Schöpfer der menschenhohen
       Installation aus rostigen Buchstaben in der alten Fez-Fabrik im Stadtteil
       Eyüp am Goldenen Horn, will damit an die Sprachen erinnern, die in der
       Türkei seit ihrer Gründung 1923 verboten wurden. „Lost Alphabet“ hat er
       seine Retrospektive deshalb genannt.
       
       Der Künstler, Jahrgang 1966, geboren in der multikulturellen Stadt Batman
       im kurdischen Teil der Türkei, ist das Paradebeispiel eines erfolgreichen
       Außenseiters. Der Autodidakt, der nie eine Kunstschule besuchte, markiert
       ein Schisma zwischen der kritischen Kunst der Türkei, die in den letzten
       zwanzig Jahren die Kunstwelt eroberte, und ihrer populären Variante. Die
       Legende besagt, Güneştekin habe schon im Alter von sechs Jahren das erste
       Gemälde geschaffen und mit 16 Jahren seine erste Ausstellung absolviert.
       Inzwischen hat er sich auf großformatige, farbenfrohe Installationen
       spezialisiert.
       
       „Atlas of Legends“ im Museum Feshane ist viereinhalb Meter lang und knapp
       zwei Meter hoch. In die 28 tiefblau lackierten Boxen der Installation sind
       knallbunte Rechtecke und florale Ornamente integriert. Leicht abstrahiert
       nehmen sie anatolische Mythen und deren Muster auf. Das kunstgewerblich
       Perfekte, nah am Massengeschmack Gebaute solcher Arbeiten mag ein Grund für
       die erstaunliche Karriere des Künstlers sein.
       
       Güneştekin ist damit so erfolgreich geworden, dass er eine eigene Stiftung
       gründen konnte. Mit ihr vermarktet der Selfmademan sein Werk, fördert aber
       auch den Nachwuchs. Gerade hat er sich den Palazzo Gradenigo in Venedig
       gekauft. Zusammen mit einer Dependance im westtürkischen Urla firmiert
       dieser Komplex nun unter dem Label „Güneştekin ArtRefinery“. Mit 1,3
       Millionen Followern auf seinem Instagram-Kanal erreicht dieser Mann zudem
       ein Massenpublikum, von dem [1][die kritische Gegenwartskunst der Türkei]
       nur träumen kann.
       
       ## Schilder für die Ermordeten
       
       Es ist Güneştekins Hang zum pathetischen, überdimensionierten
       Blockbustertum, der diese Szene Abstand halten lässt. Seine „Chamber of
       Immortality“ etwa besteht aus 11.000 handgefertigten, glitzernden
       Totenköpfen. Im neuen Istanbuler Luxushafen Galataport steht direkt neben
       dem privaten Kunstmuseum Istanbul Modern ein Werk aus seiner
       „Kostantiniye“-Serie: In Form des kurdischen Sonnenrades erinnert es an die
       vielen Namen der türkischen Metropole seit ihrer Gründung vor knapp 3.000
       Jahren.
       
       Seine Arbeit ist jedoch nicht ohne kritische Intentionen. „Lost
       Alphabet“-Kurator Christoph Tannert, lange Direktor des Berliner
       Künstlerhauses Bethanien, erinnert an „all die Verwerfungen, eingeschlossen
       den Schmerz in der multikulturellen türkischen Gesellschaft und der
       kurdischen Community“ in Güneştekins Werk.
       
       Ein markantes Beispiel dafür ist in der Ausstellung die Arbeit „Disappeared
       Language“: Dicht gehängte, knallbunte Straßenschilder an der Wand, auf
       denen die Namen derjenigen Menschen stehen, die seit den neunziger Jahren
       in türkischer Haft verschwanden oder gar [2][ermordet wurden, wie 2007 der
       armenische Journalist Hrant Dink].
       
       Güneştekins Werk verkörpert paradigmatisch das Dilemma politischer Pop-Art:
       Kritische Ideen, gefällige Umsetzung – es ist so bunt, dass es die Kritik
       gleichsam in eine Ware verwandelt. Als Güneştekin 2021 im kurdischen
       Diyarbakır in seiner Ausstellung „Erinnerungsraum“ 34 farbige Särge in
       einem Festungsturm der Stadtmauer platzierte, um an die Zivilist:innen
       zu erinnern, die bei einem Feldzug der türkischen Armee gegen die
       Kurd:innen zehn Jahre zuvor getötet worden waren, wetterte der türkische
       Innenminister gegen ihn, die Hinterbliebenen der Opfer dagegen sahen deren
       Andenken verhöhnt.
       
       Gegen das in der Istanbuler Kunstszene verbreitete Unbehagen an Güneştekins
       dichtem Netzwerk aus Prominenten, vermögenden Sammler:innen und
       Industriellen wehrt sich der Künstler oft mit dem Argument, er sei „kein
       [3][Staatskünstler]“. Der distanzlose Schulterschluss mit Ekrem İmamoğlu,
       Istanbuls Oberbürgermeister von der oppositionellen CH-Partei, bei der
       Eröffnung der Schau widersprach freilich diesem Rollenverständnis. Die
       Freundschaft mit İmamoğlu mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass er
       jetzt im Museum Feshane ausstellen kann.
       
       Die vor anderthalb Jahren eröffnete Kunsthalle [4][hatte İmamoğlu als eine
       von mehr als 40 neuen Kulturstätten in Istanbul eröffnen lassen. Damit
       betreibt er eine Art „Kultur-für-alle-Politik“,] die neuen Häuser stehen
       oft in bildungsfernen, konservativen Stadtteilen. Bei der Eröffnung 2023
       kam es zum Eklat, als einige, queerverdächtige und freizügige Kunstwerke
       von Besucherinnen vandalisiert worden waren. Womöglich hat man deswegen
       jetzt mit Güneştekin einen Künstler ausgewählt, der zwar politisch ist,
       wegen seiner frohen Formensprache aber weniger aneckt.
       
       5 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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