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       # taz.de -- Operette „Ab in den Ring!“: Zwischen Rave und Commedia dell’Arte
       
       > Die Operette hat eine subversive Vergangenheit. An der Deutschen Oper
       > Berlin holt das Kollektiv tutti d*amore sie aus der walzerseligen
       > Piefigkeit.
       
   IMG Bild: Caroline Schnitzer, Ludwig Obst, Anna Weber und Ferdinand Keller (von links) beleben als Kollektiv tutti d*amore die Operette
       
       KRAWUMM! – Die Abrissbirne zerschmettert das Bühnenbild. Aus den Trümmern,
       die an Reste einer mittelalterlichen Burg gemahnen, taucht ein Tenor in
       Korsage auf. Siegfried, Held der Nibelungen, umfasst eine blondbezopfte
       Schöne und besingt ihre strohige Perücke. Wenig später wird der zarte
       Moment durch eine Rapperin unterbrochen: „Habt ihr euch schon mal selbst im
       Spiegel angeschaut? Da bröckeln die Jahrhunderte wie Staub auf eurer
       Haut!“.
       
       „Da kommt später noch ein Beat drunter“, ruft Regisseurin Anna Weber aus
       dem Zuschauerraum. Begeistertes Gelächter unter den Beteiligten. Indes
       baumeln zwei monströse Drachenfiguren von der Decke der Tischlerei-Bühne
       der Deutschen Oper, wo das Berliner Theaterkollektiv tutti d*amore
       [1][das bildungsbürgerliche Wagner-Erbe] seziert, um es als gut gelaunten
       Klamauk zu servieren.
       
       Die Operette „Die lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus, die am Freitag,
       den 28. Februar in einer Interpretation des Berliner Kollektivs tutti
       d*amore als „Ab in den Ring!“ Premiere feiert, wurde 1904 als Parodie auf
       den deutschnationalen Kult um Richard Wagners Ring-Zyklus geschrieben. Bei
       Operette denken viele an die walzerselige Piefigkeit ihrer Großeltern- und
       Urgroßelterngeneration: Eierlikör, Spitzendeckchen, süßliche Heimatfilme,
       Revuen mit Marika Rökk.
       
       Doch das Genre hat eine subversive Vergangenheit. In seinem Standardwerk
       „Operette – Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst“ schreibt Volker
       Klotz: „Was im staatlich geregelten Alltag fest und sicher hochgehalten
       wird, rutscht hier in sich zusammen. Und was im Alltag kurz und klein
       gehalten wird, macht hier sich stark.“
       
       ## Anarchische Lust am Chaos
       
       Seit ihren Anfängen in den 1850er Jahren kehrte die Operette augenzwinkernd
       Herrschaftsverhältnisse um: In rasanten Verwechslungskomödien wurden
       Bauern zu Generälen, Herrscher von ihren Dienern an der Nase herumgeführt
       und die bürgerliche Oberfläche durch anarchische Lust am Chaos gesprengt.
       
       In den 1920er und 30ern importierten deutsche Operettenkomponisten wie Paul
       Abraham Jazz aus den USA und tanzten mit freizügiger Erotik und
       zeitpolitischen Anspielungen in den Privat- und Kellertheatern der Weimarer
       Republik gegen die Verhältnisse an. 1933 war damit Schluss. Viele der –
       [2][oft jüdischen – Operettenschöpfer wurden vertrieben oder ermordet],
       Privattheater geschlossen.
       
       Halten konnten sich vor allem affirmative Vertreter der Gattung wie Paul
       Lincke oder Johann Strauß, die spießbürgerlichen Provinzialismus oder
       soldatische Schneidigkeit verklärten. Nach 1945 retteten sich aus der
       einstmals so vielschichtigen Kunstform nur noch ein paar
       nostalgiegeschwängerte Schmachtfetzen auf Schallplatten und in restaurative
       Fernsehsendungen. Der Operette war der politische Stachel gezogen worden.
       
       Tutti d*amore – Mezzosopranistin Caroline Schnitzer, Regisseurin Anna
       Weber und die Tenöre Ludwig Obst und Ferdinand Keller – will den
       systemkritischen Geist dieser Kunstform wieder zum Leben erwecken,
       allerdings unter modernen Vorzeichen. „Es ist uns bei den Produktionen
       wichtig, das Geschehen näher an die Realität heranzuholen. Deshalb schreibe
       ich neue Rahmenhandlungen und neue Textfassungen“, sagt Anna Weber.
       
       ## Handfester Kulturkampf bei den Nibelungen
       
       Am Beispiel der „Lustigen Nibelungen“ verhandelt das Kollektiv einen
       handfesten Kulturkampf: Wegen der Kürzungen des Berliner Senats muss die
       Nibelungenfamilie um Intendant Gunther, altehrwürdiger Gralshüter des
       Wagner’schen Erbes, mit dem Berliner Underground-Kollektiv „Die wilde
       Brünhilde“ fusionieren. „Überspitzt gesagt sind die Nibelungen
       Traditionalisten, ‚Die wilde Brünhilde‘ steht für Wokeness und Innovation“,
       sagt Caroline Schnitzer.
       
       Auch in sonstigen Produktionen holt tutti d*amore politische Sujets von
       damals ins Heute: Der Kampf eines Kleinunternehmers gegen einen gierigen
       Großkonzern aus Mischa Spolianskys „Das Haus dazwischen“ wird zum Kampf
       gegen Gentrifizierung im Berlin der 2020er, und in „Magna Mater“ – eine
       Stückentwicklung nach Paul Lincke und Franz von Suppé – untersucht das
       Kollektiv strukturelle Fragen rund um Sexismus und Machtmissbrauch.
       
       Der subkulturellen Logik der Operettengeschichte folgend, ist das Kollektiv
       tutti d*amore eng mit dem Berliner Nachtleben verwachsen: Seit seinem
       Debütauftritt im Berliner Techno-Club „Sisyphos“, 2019, frischt es
       eingängige und tanzbare Operettenmusik mit Synthesizer-Sounds und
       elektronischen Beats auf.
       
       Auch der Look des Kollektivs ist irgendwo zwischen Rave und Commedia
       dell’Arte angesiedelt: Das Logo glitzert in poppigem Pink, Produktionsfotos
       zeigen halbnackte Rauschgoldengel, giftgrüne Stiefel, unförmige
       Fleisch-Anzüge und unvorteilhafte Perücken. „Man darf sich selbst nicht zu
       ernst nehmen und muss auch Spaß an der Sache haben“, findet Ludwig Obst.
       
       Jenseits jedes Funfaktors sieht tutti d*amore seine Arbeit auch immer als
       Chance, Klassik für ein neues Publikum zugänglich zu machen. Caroline
       Schnitzer sagt dazu: „Wir sind Bindeglied für Leute, die gegenüber großen
       Institutionen eine Barriere fühlen. Für die können wir eine Brücke bauen“.
       
       28 Feb 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Schors
       
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