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       # taz.de -- Massenprotest in Belgrad: Party der Demokratie
       
       > In Serbien demonstrieren so viele Menschen wie nie zuvor gegen das Regime
       > von Präsident Vučić. Der versucht alles, um sie zu diskreditieren.
       
   IMG Bild: Tausende Menschen protestieren gegen die serbischen Behörden in Belgrad, am 15.3.2025
       
       Dass man einem historischen Ereignis beiwohnte, konnte man schon am frühen
       Nachmittag merken: Das Zentrum Belgrads war so vollgestopft mit
       Demonstranten, dass Menschen aus Neubelgrad Stunden brauchten, um die 450
       Meter lange Brücke über die Save zu überqueren. Und immer noch zogen
       kilometerlange Autokolonnen aus dem ganzen Land in die serbische
       Hauptstadt.
       
       Was dort am Samstag stattfand, war die größte Kundgebung in der Geschichte
       Serbiens. Die unabhängige Organisation Archiv der öffentlichen
       Veranstaltungen sprach von 275.000 bis 325.000 Menschen. Das
       Innenministerium setzte die Zahl auf 107.000 herab.
       
       Und das, obwohl [1][gleichgeschaltete Medien] tagelang versuchten Panik zu
       schüren, heimtückische Pläne ausländischer Geheimdienste, insbesondere des
       BND, „aufdeckten“, den freiheitsliebenden Staatspräsidenten Aleksandar
       Vučić, der unermüdlich für das Wohlergehen der Serben kämpfe, mit Gewalt zu
       entmachten. Vergebens.
       
       Alle Fernsehsender mit nationaler Reichweite, alle Radiosender, die meisten
       Zeitungen stehen unter der Kontrolle der herrschenden Serbischen
       Fortschrittspartei und werden aus der Staatskasse finanziert. Sie sind viel
       mehr Sprachrohre des Regimes, als Medien und schaffen eine parallele
       Realität. Synchronisiert ziehen sie Hetzkampagnen gegen Andersdenkende
       durch und sorgen dafür, dass der Personenkult des Staatspräsidenten
       aufrecht erhalten wird.
       
       Es war der bisherige Höhepunkt der monatelangen Bürgerproteste, deren
       [2][treibender Motor Studenten] sind. Sie blockieren alle serbischen
       Universitäten, organisieren täglich im ganzen Land Proteste, ziehen zu Fuß
       durch ganz Serbien, hunderte Kilometer, um apathische Bürger aufzurütteln,
       die dem toxischen Einfluss der gleichgeschalteten Medien ausgesetzt sind.
       
       ## Erinnerung an Anti-Milošević-Demos
       
       Ihre Botschaft ist einfach: Wir wollen Rechtsstaat. Lachend, voller Elan
       und unermüdlich bestellen sie: Serbien sei eine durch und durch korrupte
       Autokratie, der Autokrat habe den Bürgern alle staatlichen Institutionen
       geraubt, damit sich die Clique, die die Macht usurpiert hat, bereichern
       könne. Und obwohl sie Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaft
       missbrauchen, sollen die Menschen keine Angst haben.
       
       Und viele folgen ihnen. Es gibt mittlerweile kein Kaff in Serbien, in dem
       nicht gegen das Regime von Staatspräsident Aleksandar Vučić demonstriert
       wird.
       
       Der Auslöser dieser Protestwelle war der Einsturz des Vordachs des gerade
       rekonstruierten Bahnhofs in [3][Novi Sad am 1. November 2024], bei dem 15
       Menschen starben. Vertreter des Regimes sprechen vom „Unglücksfall“,
       Kritiker vom „Mord“, denn die Schuld für die Tragödie sehen sie in dem
       korrupten Bauwesen.
       
       Ältere und nicht so junge Serben verglichen die gewaltige Kundgebung am
       Samstag mit der [4][Massendemonstration in Belgrad am 5. Oktober 2000], als
       wütende Menschen den damaligen Herrscher Serbiens Slobodan Milošević zum
       Rücktritt zwangen. Man sprach damals von „demokratischer Wende“. Und es
       gibt entscheidende Unterschiede, nicht nur, weil die Demo gestern bedeutend
       größer war.
       
       ## EU: Hauptsache stabil
       
       Damals stand der Westen hinter den serbischen Demonstranten, es waren
       proeuropäische Proteste. Heute unterstützen westliche Staaten den
       serbischen Autokraten und betrachten die Demonstranten, revoltierende
       serbische Studenten, eigentlich als ein Dorn im Auge der regionalen
       Stabilität.
       
       Deshalb ist auch die EU, der europäische Integrationsprozess, denn Serbien
       hat formal den [5][Status eines Beitrittskandidaten], überhaupt kein Thema
       bei den heutigen Demos. Junge Serben fühlen sich von der EU in Stich
       gelassen. Die EU ist mit sich selbst, Russland, dem Nahen Osten und Donald
       Trump beschäftigt. Was den Westbalkan angeht, also auch Serbien, ist man in
       Brüssel froh, wenn die Sicherheitslage stabil bleibt, bei demokratischen
       Schönheitsfehlern, wie zum Beispiel bei Wahlfälschung in der serbischen
       Scheindemokratie, drückt man da gern auch beide Augen zu.
       
       Vor 25 Jahren fand ein Aufstand gegen das Regime statt, Demonstranten waren
       kampfbereit, entschlossen bis zum bitteren Ende zu gehen. Und heute? Der
       bekannte serbische Schauspieler Sergej Trifunović erklärte da so: „Das ist
       ein Fest, ein Fest der Menschen, die ein besseres Leben wollen. Mir
       persönlich gefällt das besser, denn das hier ist keine Revolution, es ist
       eine Evolution“.
       
       Nach der „Revolution“ vor einem Vierteljahrhundert bekamen die Serben
       vielleicht einen Staat, doch sie bekamen keine Gesellschaft, sagt der
       Schauspieler. Und heute wohnten wir einer gesellschaftlichen Evolution bei,
       die letztendlich zu einer Revolution führen würde.
       
       ## Auch Promis unter den Unterstützern
       
       Oppositionelle politische Parteien haben bei dem aktuellen Volksaufruhr gar
       keine Bedeutung. Studenten halten dezidiert Distanz zu ihnen. Verzankt,
       unter enormen Druck des Regimes, waren Oppositionsparteien über ein
       Jahrzehnt nicht in der Lage, das autokratische Regime ernsthaft zu
       bedrohen.
       
       Neben Professoren, Lehrern, Anwälten, Arbeitern, Künstlern stellten sich
       auch serbische Sportler hinter die Studenten, wie die legendären
       Basketballspieler Vlade Divac, Dejan Bodiroga und Aleksandar Djordjević,
       der jetziger Superstar Bogdan Bogdanović, Fußballer Nemanja Vudić, oder der
       beste Tennisspieler aller Zeiten Novak Djoković.
       
       Aber all das ließ das serbische Staatsoberhaupt kalt. Samstagnacht wendete
       sich Vučić an das Volk, wie er das fast jeden Tag tut, manchmal auch
       mehrmals. Er verbreitete wie üblich Lügen über Auslandssöldner und finstere
       Machtzentren, die Serbien ruinieren wollten, lobte die Sicherheitskräfte,
       aber auch die Studenten, die für Ordnung sorgten.
       
       ## Würde die Polizei ihm folgen?
       
       Seine Botschaft: Ich lasse euch friedlich marschieren und demonstrieren so
       lange ihr wollt, ihr könnt Fakultäten, Grund- und Mittelschulen, Straßen,
       Brücken und Autobahnen blockieren, Anwaltskammern können gegen mich
       streiken, aber ich denke nicht daran zurückzutreten. Seine Wut kann er
       dabei kaum mehr unterdrücken, aber er weiß: Wenn er Sondereinheiten der
       Polizei den Befehl erteilt, gegen das Volk vorzugehen, wie sein
       [6][weißrussischer Freund Alexander Lukaschenko], gibt es kein Zurück mehr.
       
       Außerdem kann er sich nicht sicher sein, dass sie ihm gehorchen würden.
       Unmittelbar vor der großen Kundgebung in Belgrad sagte ein Oberst der
       Belgrader Polizei, der anonym bleiben wollte, dem Magazin Vreme, er würde
       seine Einheiten nicht auf die Demonstranten schicken, denn auch seine
       Kinder würden dabei sein.
       
       Und diese „Kinder“ scheinen unermüdlich zu sein in ihrem Kampf für ein
       „besseres, demokratisches Serbien“, in dem alle gleich sind vor dem Gesetz.
       
       16 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Pressefreiheit-in-Serbien/!6056998
   DIR [2] /Proteste-in-Serbien/!6051671
   DIR [3] https://www.jungewelt.de/artikel/487620.novi-sad-nach-einsturz-von-bahnhofsdach-serbischer-verkehrsminister-tritt-zur%C3%BCck.html
   DIR [4] /Serbien-zehn-Jahre-nach-Milosevic/!5134521
   DIR [5] /Serbische-Wahlen/!5975837
   DIR [6] /Alexander-Lukaschenko/!t5023767
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrej Ivanji
       
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