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       # taz.de -- Debatte um Migration: Fatale Normalisierung
       
       > Rechte Narrative bahnen sich immer stärker den Weg in die
       > gesellschaftliche Mitte. Und die rechtspopulistischen Parteien kassieren
       > die Dividende.
       
   IMG Bild: Nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg solidarisieren sich Menschen mit Kerzen, Blumen und Plüschtieren
       
       Den Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik hätte die Union ohne die
       Stimmen der AfD nicht verabschieden können. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz
       empörte sich zu Recht über diesen „Dammbruch“, während der
       Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg ankündigte, aus Protest sein
       Bundesverdienstkreuz zurückzugeben. Überraschend kommt diese Entwicklung
       indes nicht, sondern sie ist die logische Konsequenz einer seit Jahren
       verschärften migrationskritischen Rhetorik, die sich längst nicht mehr auf
       rechtspopulistische Parteien beschränkt.
       
       Auch etablierte Parteien greifen die migrations-skeptischen Narrative auf,
       um sich im politischen Wettbewerb zu profilieren. Damit verschieben sie die
       politische Mitte weiter nach rechts und normalisieren Positionen, die einst
       als extrem galten. So stellt das [1][GESIS – Leibniz-Institut für
       Sozialwissenschaften] fest, dass einwanderungsfeindlicher Sprachgebrauch
       den Wähleranteil rechtsextremer Parteien erhöht.
       
       Mit Themen wie „Abschiebungsoffensiven“ oder „geschlossene Grenzen“
       verschieben sie den politischen Diskurs und legitimieren rechtsextreme
       Forderungen. Anstatt die Wählerbasis der AfD zu schwächen, wird deren
       Radikalisierung und Mobilisierung weiter verstärkt. Migranten werden
       dadurch zunehmend als politische Sündenböcke instrumentalisiert. Die Folge
       ist, dass wirkliche gesellschaftliche Herausforderungen und das enorme
       Potenzial von Menschen mit Einwanderungsgeschichte ignoriert werden.
       
       Deutschland ist ein Einwanderungsland. Im Jahr 2023 hatten 24,9 Millionen
       Menschen einen Migrationshintergrund. 7,1 Millionen Menschen davon sind
       wahlberechtigt, 12 Prozent aller Wahlberechtigten. Statt das
       Wählerpotenzial dieser Bevölkerungsgruppe zu erkennen und Politik zu ihren
       Gunsten zu fördern, werden Menschen mit Einwanderungsgeschichte oft
       stigmatisiert oder kriminalisiert. Besonders stark liegt der Fokus dabei
       auf muslimischen Migranten.
       
       ## Muslime unter Generalverdacht
       
       Oft wird vorschnell ein Analogieschluss von „Migrantenkriminalität“ hin zum
       „Islamismus“ gezogen, wodurch alle Muslime unter Generalverdacht geraten.
       Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Die Anzahl der
       [2][„islamistischen Gefährder“] liegt laut BKA bei „nur“ 483 Personen – das
       entspricht lediglich 0,0085 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime.
       Während etwa 6 Millionen Muslime aufgrund von lediglich 500 Personen unter
       Generalverdacht gestellt werden, rückt die eigentliche Gefahr in den
       Hintergrund: der Rechtsextremismus. 2023 gab es laut
       Verfassungsschutzbericht 40.600 Rechtsextremisten in Deutschland.
       
       Anhand dieser empirischen Realität ist es verwunderlich, dass Migration
       dennoch das Wahlkampfthema Nummer eins war. Dieser kontrafaktische Diskurs
       schadet letztlich uns selbst, denn wir verlieren unsere Zukunft. Fast die
       Hälfte der unter Fünfjährigen hat einen Migrationshintergrund. 45 Prozent
       der sechs Millionen Muslime in Deutschland sind unter 25 Jahre alt. Diese
       Menschen sind nicht das Problem, sondern die Zukunft unseres Landes. Das
       geht viel zu oft unter.
       
       So räumten am Morgen des 1. Januars 2025 in rund 300 Orten in Deutschland
       Tausende [3][muslimische Jugendliche der Ahmadiyya Muslim Jamaat] den
       Silvestermüll ehrenamtlich auf. Dieser Ausdruck der Verbundenheit von
       Muslimen zu Deutschland fand kaum Erwähnung in der öffentlichen Debatte.
       Diese Menschen stellen auch deswegen unsere Zukunft dar, weil wir ein
       massives Problem des Fachkräftemangels haben. Bis 2035 gehen 18 Millionen
       Menschen in den Ruhestand, während nur 11 Millionen nachrücken.
       
       Diese Lücke kann ohne Zuwanderung unmöglich geschlossen werden. Viele
       Geflüchtete und [4][Migranten tragen bereits jetzt entscheidend zur
       deutschen Wirtschaft bei]. Von den 2015 nach Deutschland gekommenen
       Geflüchteten standen im Jahr 2022 knapp zwei Drittel im Arbeitsverhältnis.
       Viele von ihnen arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau, so ist gut ein
       Drittel der Migranten in Berufen tätig, die ihren Qualifikationen nicht
       gerecht werden.
       
       ## Verkanntes Potential
       
       Während Migration häufig problematisiert wird, wird das Potenzial von
       Menschen mit Einwanderungsgeschichte verkannt, das bei Weitem noch nicht
       ausgeschöpft ist. Hinzu kommt, dass migrationsverschärfende und
       islamfeindliche Diskurse nicht nur Deutschland für neue Zuwanderer
       unattraktiv machen, sondern auch das Risiko erhöhen, dass bereits gut
       integrierte Menschen mit Einwanderungsgeschichte Deutschland verlassen.
       
       Die Fokussierung auf Migration als Problemthema lenkt zudem von anderen,
       weitaus größeren Herausforderungen ab. So entgehen dem deutschen Staat
       jedes Jahr über 200 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und
       Geldwäsche. Die flüchtlingsbezogenen Ausgaben des Bundes – rund 28
       Milliarden Euro im Jahr 2023 – verblassen im Vergleich dazu. Dennoch wird
       Migration im Wahlkampf immer wieder als zentrales Thema aufgegriffen,
       während die großen finanziellen Baustellen unbeachtet bleiben.
       
       Hier wird besonders deutlich, wie „auf den Schultern der Kleinen“ Wahlkampf
       betrieben wird. Die [5][Bezahlkarte für Asylbewerber] wurde als Symbol für
       Verschwendung dargestellt, obwohl der Betrag von 460 Euro monatlich im
       Vergleich zu den Milliarden, die durch Cum-Ex-Skandale verloren gingen,
       verschwindend gering ist. [6][Anne Brorhilker], ehemalige führende
       Ermittlerin im Cum-Ex-Skandal, fasste es treffend zusammen: „Die Kleinen
       hängt man, die Großen lässt man laufen.“
       
       Es ist an der Zeit, den Diskurs zu ändern. Statt die Narrative
       rechtspopulistischer Akteure zu übernehmen, müssen etablierte Parteien das
       Potenzial von Migration hervorheben. Potenzialorientierte Diskussionen
       statt problemzentrierter Debatten sind das Gebot der Stunde, um
       gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie zu stärken.
       
       20 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://idw-online.de/de/news823639?utm_source=chatgpt.com
   DIR [2] https://mediendienst-integration.de/en/desintegration/extremistischer-islamismus.html
   DIR [3] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/muslime-machen-nach-silvester-sauber-im-kreis-boeblingen-100.html
   DIR [4] /Migration-gegen-Arbeitskraeftemangel/!5977767
   DIR [5] /Bezahlkarte-fuer-Gefluechtete-in-Berlin/!6048273
   DIR [6] /Fruehere-Oberstaatsanwaeltin-Brorhilker/!6060270
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Scharjil Khalid
       
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