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       # taz.de -- Zwangsprostitution im NS: „B-Baracke“ gleich Bordell
       
       > Ein vergessenes Kapitel der NS-Geschichte: Die staatlich organisierte
       > Zwangsprostitution. Die Kunstschau „Missing Female Stories“ in Berlin
       > widmet sich dem Thema.
       
   IMG Bild: Bild aus künstlerischen Spurensuche „Missing Female Stories“
       
       Berlin taz | In der Baracke Nummer zwei im Dokumentationszentrum
       NS-Zwangsarbeit in Schöneweide hängt ein braunes Hemd an einem
       Kleiderbügel. Es hat deutlich sichtbare Löcher, Birgit Szepanski hat sie
       hineingeschnitten. Sie symbolisierten die Leere über das Geschehene, sagt
       sie. Denn wir wüssten viel zu wenig.
       
       Was dennoch bekannt ist, hat Szepanski in einer Kunstschau zu verarbeiten
       gesucht, die einen Raum in der Baracke einnimmt. Darin geht um ein
       vergessenes Kapitel in der Geschichte des NS-Staats: die staatlich
       verordnete und organisierte Zwangsprostitution von Frauen für Männer, die
       ihrerseits unter Zwang Arbeitsdienste für die Nazis verrichteten.
       
       Szepanski betreibt recherchebasierte Kunst. 2020 war es, da besuchte sie
       die Königsheide, ein Wäldchen nicht weit von Bahnhof Schöneweide an der
       Straße Südostallee gelegen. Dort habe sie von einem Heimatforscher einen
       ersten Hinweis auf Zwangsprostitution in einem Arbeitslager der
       Henschel-Flugzeugwerke erhalten, das unweit des Wäldchens gestanden hatte.
       
       2.000 männliche Insassen mussten dort schuften, meist Italiener, Franzosen
       und Belgier. Angehörige dieser Nationen konnten ihr Lager in der Freizeit
       verlassen, im Gegensatz zu Gefangenen aus der Sowjetunion. Insgesamt soll
       es mehr als 3.000 Zwangsarbeiterlager in Berlin gegeben haben.
       
       ## Entdeckt im Bauaktenarchiv
       
       An der Wand von Baracke Nummer 2 im Dokumentationszentrum hängen
       Bauzeichnungen auf vergilbtem Papier. Szepanski hat sie im Bauaktenarchiv
       Treptow entdeckt. Zu sehen ist der Grundriss einer Baracke mit zwölf
       Zimmern, jeweils 3,75 Meter im Quadrat groß, dazu ein Vorraum und ein
       Arztzimmer.
       
       Das Bauwerk ließ sich bei Bedarf leicht um vier Zimmer erweitern. Auf dem
       Blatt ist von einer „B-Baracke“ die Rede. „B“ steht für Bordell. Im
       NS-Staat gab es alle möglichen Abkürzungen, oft zu Tarnungszwecken, eine
       F-Maschine stand zum Beispiel für eine Guillotine. Nun also eine B-Baracke.
       
       In den Bauakten werden die Frauen, die dort Sex-Arbeit verrichten mussten,
       mit keinem Wort erwähnt, das ist Szepanski sogleich aufgefallen. Da ist nur
       von „Personen“ die Rede. 12 Zimmer für 12 „Personen“ also, rund 500 Meter
       entfernt vom Lager des Henschelwerks. Für dieses waren die Frauen in der
       „B-Baracke“ bestimmt. Ein Besuch war auf 15 Minuten limitiert. Wachmänner
       kontrollierten die Männer, ein Arzt überwachte die Frauen. Die Organisation
       übernahm die Deutsche Arbeitsfront.
       
       „Die Nazis waren die größten Zuhälter der Geschichte“, sagt Robert Sommer.
       Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit hat den Historiker im Februar zur
       Diskussion eingeladen. Sommer hat als Autor mit einer Studie über Bordelle
       in deutschen Konzentrationslagern Neuland betreten.
       
       Das NS-Regime habe 1934 zunächst die faktische Straflosigkeit für
       Prostitution beendet, schreibt Sommer. „Gewerbsunzucht“ wurde in Orten mit
       unter 20.000 Einwohnern verboten. Adolf Hitler hatte in „Mein Kampf“
       Prostitution als „eine Schmach der Menschheit“ bezeichnet.
       
       ## Nur noch das Fundament der Baracke
       
       Als die Künstlerin Birgit Szepanski erstmals von der Baracke gehört hatte,
       war sie schockiert. „Mir wurde mulmig“, sagt sie. Das Dickicht in der
       Königsheide macht ein Betreten des Wäldchens schwierig. Szepanski entdeckte
       einen Trampelpfad. Aber sie fand keine Spuren der „B-Baracke“, nicht einmal
       das Fundament hat sich erhalten. 3,75 mal 3,75 Meter, das war die
       Zimmergröße der Frauen. Szepanski markierte die Dimension mit einem Band
       zwischen den Bäumen. Jetzt hängt dieses Band in der Ausstellung und
       markiert dort die Größe der Räume, in denen die Frauen zur Prostitution
       gezwungen wurden.
       
       Mit Kriegsbeginn 1939 setzte [1][der NS-Staat] andere Prioritäten in Sachen
       Prostitution. Einerseits wurden Prostituierte nun aus Furcht vor einer
       Beeinträchtigung der Wehrkraft durch Geschlechtskrankheiten komplett
       erfasst und scharf kontrolliert. Andererseits machten sich die Nazis selbst
       zu Zuhältern. Da gab es die Bordelle für die Soldaten der Wehrmacht
       jenseits der deutschen Grenzen. Auch wurde eine entsprechende Einrichtung
       für die KZ-Schergen von Auschwitz errichtet.
       
       In zehn KZs entstanden Bordelle für Gefangene. Diese Lager waren nicht nur
       Orte des Mordens, sondern auch der Zwangsarbeit. Keineswegs jeder männliche
       Häftling durfte eine der Prostituierten besuchen.
       
       Der NS-Rassismus war Auslöser für die Entwicklung von Bordellen für
       Zwangsarbeiter. Die Nazis fürchteten, die Verschleppten könnten sich
       deutschen Frauen nähern. Männlichen Zwangsarbeitern drohte in diesem Fall
       die Todesstrafe, den deutschen Frauen die öffentliche Demütigung und
       [2][eine Einweisung in ein Konzentrationslager]. Und doch kam es immer
       wieder zu Liebesbeziehungen.
       
       ## Bordell als Leistungsanreiz
       
       Die „Fremdarbeiter“ könnten Bordelle haben, entschied SS-Chef Heinrich
       Himmler 1940. „Aber mit unserem deutschen Volk haben sie nichts zu tun.“
       Zugleich sollte die Möglichkeit eines Bordellbesuchs den Männern einen
       Anreiz zu besserer Arbeit geben. In einem Brief Himmlers vom März 1942
       heißt es, den „fleißig arbeitenden Gefangenen“ sollten als Leistungsanreiz
       „Weiber in Bordellen“ zugeführt werden.
       
       Waren die Bordelle besuchenden männlichen [3][Zwangsarbeiter] damit nicht
       nur bis aufs Blut ausgebeutete Opfer der Nazis, sondern auch Täter bei
       einer Zwangsprostitution? „Es gibt darauf keine eindeutige Antwort“, sagt
       Gedenkstättenleiterin Christine Glauning dazu. Im NS-Staat habe es immer
       wieder Entwicklungen gegebenen, bei denen „die Grenzen zwischen Opfern und
       Tätern verschwimmen. Dies ist in diesem Fall sicherlich auch so.“
       
       Man müsse über die Männer reden, aber ohne deshalb ihren Opferstatus
       infrage zu stellen, meint Historiker Sommer. Lange genug sind gerade die
       Zwangsarbeiter, egal ob männlich oder weiblich, in der bundesdeutschen
       Öffentlichkeit ignoriert worden.
       
       ## Nichts bekannt über die Frauen
       
       Über die Frauen in der „B-Baracke“ in der Königsheide sei nichts bekannt,
       bedauert die Künstlerin [4][Birgit Szepanski]. Es gibt nicht einen Namen,
       keine Geburtsdaten, einfach nichts. Aus anderen Einrichtungen weiß man
       immerhin, dass der NS-Staat nicht nur Prostituierte in solche Bordelle
       zwang, sondern auch Frauen, die als gesellschaftlich unangepasst galten,
       als „asozial“, wie es damals hieß.
       
       Es sollen dort vor allem Polinnen und Französinnen gearbeitet haben. Doch
       der Forschungsstand ist dünn. Die meisten Frauen haben vermutlich den
       NS-Terror überlebt, aber danach aus Scham geschwiegen. Bis heute gibt es
       kaum Berichte der Gepeinigten über ihr Dasein in den Bordell-Baracken.
       „Missing Female Stories“ heißt deshalb auch Szepanskis Installation.
       
       Die verschwundene Baracke in der Königsheide war kein Unikum, sondern
       Alltag in deutschen Städten. Die Nazis hätten bestimmt, dass auf 300 bis
       500 zwangsarbeitende Ausländer eine Prostituierte kommen sollte, schreibt
       Sommer. „Arischen“ Frauen, also etwa solchen aus Deutschland, Norwegen oder
       den Niederlanden, war die Arbeit dort verboten, zudem unterlagen Jüdinnen
       im NS-Staat einem strikten Prostitutionsverbot.
       
       Umgekehrt durften deutsche Männer diese Bordelle nicht besuchen – eine
       Folge der rassistischen Vorstellung, die „Vermischungen“ nicht gestattete
       und bei sexuellen Kontakten zwischen Juden und „Ariern“ eine
       „Rassenschande“ postulierte. Fast acht Millionen Zwangsarbeiter aus den
       deutsch besetzten Ländern schufteten 1944 im Deutschen Reich.
       
       So entstanden nach Sommers Forschungen bis Ende 1943 insgesamt 60 Bordelle,
       weitere 50 waren geplant – deutlich weniger als nach den zynischen
       Berechnungen der Nazis veranschlagt.
       
       ## Fünf Mark für einen Bon
       
       In Berlin sind fünf solcher Orte der Zwangsprostitution in der NS-Zeit
       nachgewiesen, möglicherweise gab es aber noch mehr. Der Wiener Publizist
       Moritz Grote fand jüngst bei Recherchen im Landesarchiv Salzburg heraus,
       dass die Frauen für ihr Zimmer zehn Mark pro Tag bezahlen mussten.
       Männliche Besucher kauften für fünf Mark einen Bon, der zum Eintritt in
       eines der Zimmer berechtigte. Davon gingen vier Mark an die Frau und eine
       an die NS-Verwalter.
       
       Ob dieses System aber überall im Reich, also auch in Berlin, galt, ist
       nicht sicher. Es soll auch Fälle gegeben haben, in denen sich der Betrieb
       der Bordell-Baracken im Sinne der Nazis nicht rentierte und diese deshalb
       wieder geschlossen wurden.
       
       Szepanskis Kunstinstallation hat den Anstoß dafür gegeben, dass vielleicht
       bald weitere Informationen über die Baracke in der Königsheide bekannt
       werden. Die Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick beschloss Ende
       letzten Jahres, dass dort archäologische Forschungen durchgeführt werden
       sollen. Auch sind Informationstafeln über die Sex-Zwangsarbeit vorgesehen.
       
       In Szepanskis Kunstausstellung hängt eine Schwarz-Weiß-Fotografie an der
       weißen Wand, darauf zwei leere Blumenvasen auf einer Tischdecke drapiert –
       eine Art der Verschönerung von Räumen, wie sie es auch in den Zimmern der
       Bordellbaracken gegeben haben soll. Szepanski hat diese trügerische Idylle
       auf dem Boden darunter zerschmettert. Dort liegen nun Scherben, Stoff und
       vertrocknete Pflanzen.
       
       21 Mar 2025
       
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