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       # taz.de -- Analyse zu Protesten in Serbien: „Das Regime verfault von innen“
       
       > Dem serbischen Präsidenten Vučić entgleitet die Kontrolle zusehends, sagt
       > der Politologe Srđan Cvijić. Er fordert auch mehr Druck von der EU.
       
   IMG Bild: Unter Druck: Alexander Vučić hier beim Treffen mit der EU und den westlichen Balkanländern in Brüssel im Dezember 2024
       
       taz: Rund eine halbe Million Menschen gingen letzten Samstag gegen
       Aleksandar Vučić auf die Straße. Wie sehr steht er unter Druck? 
       
       Cvijić: Die Proteste sind absolut bedrohlich für ihn – es war die größte
       Versammlung in der Geschichte Serbiens. Das Regime ist in die Ecke
       gedrängt, seine Unterstützung nimmt rapide ab und es hat die politische
       Legitimität vollständig verloren. Selbst Androhungen von Gewalt haben nicht
       funktioniert.
       
       taz: Es gibt Videos und Berichte, dass Schallwaffen zum Einsatz kamen. 
       
       Cvijić: Höchstwahrscheinlich wurde eine solche Waffe eingesetzt, und zwar
       ausgerechnet während der Schweigeminute für die 15 Toten der Tragödie von
       Novi Sad, die den Auslöser für die aktuellen Proteste darstellte. Die
       Regierung bestreitet den Einsatz so einer Waffe, obwohl viele Beamte von
       Vučićs Partei ihn zunächst bejubelt haben. Nur die Reaktion des
       studentischen Sicherheitsdienstes verhinderte eine Massenpanik mit
       möglichen Todesopfern.
       
       taz: Schon 2023 wurde gegen eine Massenschießerei an einer Grundschule
       demonstriert, Anfang 2024 gegen gefälschte Wahlen. Was ist diesmal anders? 
       
       Cvijić: Nach mehr als zehn Jahren eines vereinnahmten Staates ohne
       unabhängige Institutionen, freie Wahlen und freie Medien reicht es den
       Menschen. Der einzige Weg, Dissens zu äußern, besteht darin, auf die Straße
       zu gehen. Wenn man die Geschichte Serbiens betrachtet, hat das serbische
       Volk eine große Toleranz gegenüber autoritären Führern, aber wenn es vorbei
       ist, ist es vorbei. Und jetzt ist es so weit.
       
       taz: Präsident Vučić hat schon einige Zugeständnisse gemacht, nun tritt
       auch Ministerpräsident Miloš Vučević zurück. 
       
       Cvijić: Vučević ist ein Feigenblattpremierminister, der durch fast jeden
       anderen ersetzt werden könnte. Klar ist aber: Präsident Vučić kontrolliert
       die Situation nicht mehr. Was er tut, ist, seine Macht zu verteidigen. Es
       ist ein sehr gefährlicher Moment. Es bräuchte wahrscheinlich auch eine
       Stimme aus dem Ausland, die Vučić mitteilt, dass er einen echten
       institutionellen Dialog mit den Oppositionskräften beginnen muss. Es
       braucht eine Übergangsregierung, die den Weg für faire und freie Wahlen
       ebnet. Das ist der einzige friedliche Ausweg – sonst wird Vučić
       letztendlich verlieren, was auch immer er tut.
       
       taz: Wenn Sie von Druck von außen sprechen, meinen Sie die EU? 
       
       Cvijić: Ganz genau. Die EU müsste mit einer einzigen Stimme reagieren,
       nicht nur ihr Erweiterungskommissar, auch wenn dieser sich zuletzt für
       demokratische Grundrechte ausgesprochen hat. Auch die Führung von
       Kommission und Rat sowie die Mitgliedsstaaten müssten der serbischen
       Führung Vernunft einflößen.
       
       taz: Welche Art von Druck könnte ausgeübt werden? Wären die brachliegenden
       Beitrittsgespräche ein Hebel? 
       
       Cvijić: Das wäre eine Möglichkeit, aber die protestierende Bevölkerung
       würde das nicht zufriedenstellen, weil die EU-Mitgliedschaft derzeit kein
       Thema ist. Der Hebel müsste eher bei den transnationalen Abkommen mit
       EU-Mitgliedstaaten ansetzen. Wenn diese wegfallen, wird klar, dass die
       serbische Führung das Land nicht mehr kontrolliert. Letztendlich wird aber
       keine externe Kraft die Situation lösen, sondern die Veränderung muss von
       innen kommen.
       
       taz: Wie könnten die Proteste weitergehen? Kann der Druck aufrechterhalten
       werden? 
       
       Cvijić: Mittlerweile kann keine Kommunalversammlung in ganz Serbien mehr
       ohne Polizeischutz abgehalten werden. Das Regime verfault von innen und hat
       keinerlei politische Legitimität mehr. Der Wendepunkt ist überschritten,
       diese Proteste werden nicht abflauen. Das Regime weiß das inzwischen und
       wird versuchen, Gewalt einzusetzen.
       
       20 Mar 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Florian Bayer
       
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