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       # taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Definitionsmacht eines Genozids
       
       > Die Völkermord-Anklage gegen Israel erlebt eine Renaissance. Dieser
       > Vorwurf ist haltlos – eine Replik auf einen Text in der taz.
       
   IMG Bild: Der Begriff Genozid wird immer wieder bei pro-palästinensischen Protestveranstaltung benutzt, wie in Berlin Februar 25
       
       Israels vermeintlicher Genozid ist für manche Kritiker so alt wie das Land
       selbst: Der jüdische Staat soll schon seit der Staatsgründung 1948 einen
       Völkermord gegen die Palästinenser verüben. Und in den Tagen direkt nach
       dem 7. Oktober 2023, dem Hamas-Massaker, das sich überwiegend gegen
       israelische Zivilisten richtete, erlebte der Vorwurf eine Renaissance –
       noch bevor alle 1.200 Leichen und 250 Geiseln überhaupt gezählt werden
       konnten.
       
       Inzwischen reicht selbst der Begriff Genozid nicht, um 16-monatigen Krieg
       zwischen Israel und der Hamas in Gaza zu beschreiben, der mit einem
       Waffenstillstand und Geiseldeal am 19. Januar zunächst unterbrochen wurde,
       [1][während über eine längerfristige Friedenslösung noch verhandelt wird].
       Nein, Israel begehe einen Ecozid, Scholastizid, Medizid, Urbizid und viele
       weitere Zide. Auch ein neuer Begriff kursiert, um dieses vermeintlich
       singuläre Ereignis der Menschheitsgeschichte zu beschreiben: der „Gazazid“.
       
       Eine heftige Debatte entbrennt, ob Israel im Gaza-Krieg einen Genozid
       verübt habe. Die israelische [2][Soziologin Eva Illouz kritisiert den
       Vorwurf im Dezember in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung als
       historisch falsch], unehrlich und antisemitisch. In der taz erschien im
       Januar eine [3][Replik mit der Überschrift „Völkermord, im Ernst“], die
       Illouzs Argumentation moniert.
       
       Es geht in diesem Konflikt zu selten um Fakten, dafür um jede Menge
       Superlative. Aber der Genozidvorwurf gegen Israel wird nicht wahrer, je
       öfter man ihn wiederholt. Und bei vielen scheint das Narrativ von
       vornherein gesetzt zu sein. Denn es würde das antiisraelische Bauchgefühl
       rückwirkend legitimieren, den Hass rechtfertigen. Erst nach dem Vorwurf
       wird nach vermeintlichen Belegen gesucht. Und wenn die Belege nicht
       reichen, wird die Definition eines Genozids so weit ausgedehnt, bis die
       passen könnte.
       
       ## Genozid-Konvention von 1948
       
       Ausgerechnet der jüdische Staat soll sich eben des Menschheitsverbrechens
       schlechthin schuldig gemacht haben, des Genozids – ein Begriff, der 1944
       von einem jüdischen Juristen erfunden worden war, um die
       Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten rechtlich zu erfassen und
       künftig zu verhindern. Die internationale Genozid-Konvention von 1948
       spricht von Handlungen, die „in der Absicht begangen“ werden, „eine
       nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder
       teilweise zu zerstören“.
       
       Ein Genozid ist also nicht von der Todeszahl abhängig, die in Gaza
       erschreckend hoch ist, sondern von der Intention. So weit, so richtig. Doch
       die Zahlen sind trotzdem hilfreich: [4][Mehr als 48.000 Palästinenser in
       Gaza] bis zum Waffenstillstand sind laut der von der Hamas geführten
       Gesundheitsbehörde getötet worden, die zwischen Kämpfern und Zivilisten
       nicht unterscheidet. Belastbare, unabhängige Zahlen gibt es nicht. Viele
       berufen sich auf eine [5][Korrespondenz im renommierten Medizinjournal The
       Lancet], die 186.000 Tote oder mehr für plausibel hält. Diese Korrespondenz
       ist allerdings keine Peer-Reviewed-Studie, sondern eine Art Leserbrief, und
       wurde [6][in anderen Lancet-Korrespondenzen heftig kritisiert].
       
       Dennoch: Für die Terrororganisation Hamas ist eine hohe Todeszahl Teil des
       Plans, um Israel unter Druck zu setzen. Und für Yahya Sinwar, bis zu seiner
       Tötung im Oktober Hamas-Chef in Gaza, sind die getöteten Palästinenser
       [7][laut geleakten Nachrichten „notwendige Opfer“]. Die Hamas verschanzt
       sich in Tunneln und ziviler Infrastruktur, sie gefährdet bewusst das Leben
       von Zivilisten. Dass Gaza in Schutt und Asche liegt, ist eine absolute
       Tragödie. Eine, für die die Hamas eine große Mitverantwortung trägt.
       
       ## Verteidigung als legitimes Kriegsziel
       
       Vor diesem Hintergrund ist es doch bemerkenswert, dass die israelische
       Armee nach eigenen Angaben 20.000 der schätzungsweise insgesamt 30.000 bis
       35.000 Hamas-Kämpfer getötet hat. Diese Zahl ist wichtig, denn sie ist ein
       gutes Indiz dafür, ob die israelische Armee die Palästinenser in Gaza
       absichtlich vernichten will – also einen Völkermord begeht – oder sich
       gegen die Hamas verteidigt, was ein legitimes Kriegsziel wäre.
       
       Und einiges spricht dafür, dass die Zahl der getöteten Hamas-Kämpfer
       stimmen dürfte. So ging das [8][Institute for the Study of War in
       Washington] im September davon aus, dass Israel nur drei der insgesamt 24
       Brigaden der Hamas noch nicht besiegt hätte, auch wenn die Hamas weiterhin
       rekrutiert und ihre Strukturen wieder aufbaut. Auch [9][die britische Henry
       Jackson Society] kommt in einem im Dezember veröffentlichten Bericht zum
       Schluss, dass mindestens 40 Prozent ihrer Kämpfer von Israel getötet worden
       sind, was diese Zahl als glaubwürdig erscheinen lässt.
       
       Entscheidend ist das Verhältnis zwischen getöteten Kämpfern und Zivilisten.
       Und hier ist es, wenn man die Gesamttodeszahl der Hamas-Gesundheitsbehörde
       größtenteils akzeptiert, aber statistische Ungereimtheiten herausrechnet,
       fast eins zu eins.
       
       Laut dem [10][Friedensforscher William Eckhardt] waren zwischen dem 18. und
       20. Jahrhundert die Hälfte alle Kriegstoten Zivilisten. Der [11][Londoner
       Thinktank Action on Armed Violence] kommt zu dem Ergebnis, dass sogar 90
       Prozent aller Verletzten oder Getöteten von Sprengstoffwaffen in
       bevölkerten Gebieten Zivilisten sind, deutlich mehr als in Gaza. Und so
       ähnelt der Krieg in Gaza nicht anderen Genoziden, sondern anderen Kriegen,
       vor allem im urbanen Raum. Das macht ihn nicht weniger furchtbar.
       
       ## Internationaler Strafgerichtshof angerufen
       
       Die israelische Kriegsführung in Gaza kann man dennoch kritisieren. Eine
       [12][Recherche der New York Times] im Dezember deckte auf: Israel schwächte
       nach dem 7. Oktober 2023 die Regeln für Luftangriffe auf Hamas-Ziele ab. So
       dürfen inzwischen bis zu 20 Zivilisten pro Angriff gefährdet werden. Das
       kann man als brutal und unverhältnismäßig kritisieren, die Absicht dabei
       bleibt jedoch, die Hamas zu bekämpfen – trotz teils menschenverachtender
       Aussagen diverser Politiker in Israel, die zu Recht scharf kritisiert
       werden müssen.Südafrika hat Israel dennoch vor dem Internationalen
       Strafgerichtshof des Genozids beschuldigt, ein Urteil wird es vermutlich
       erst in Jahren geben. Die regierende Partei des Landes, der African
       National Congress, pflegt übrigens seit Jahren Verbindungen zur Hamas, die
       er als legitime Befreiungsorganisation sieht. Inzwischen hat Irland die
       Klage unterstützt, doch das Land will eine neue Genozid-Definition, weil
       die jetzige laut Außenminister Michael Martin eine „sehr enge
       Interpretation“ sei.
       
       Auf ein Urteil wollen manche Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen
       nicht warten. [13][Amnesty International] etwa. Im Dezember veröffentlichte
       die Kampagnenorganisation einen Bericht, auf den sich viele nun beziehen,
       der auch Genozid neu definiert: Eine genozidale Absicht müsse „holistisch“
       betrachtet werden, Genozid müsse nicht die einzige Intention sein, „sie
       kann mit militärischen Zielen koexistieren“, heißt es. Amnesty Israel
       distanzierte sich davon und wurde daraufhin für zwei Jahre von der
       Mutterorganisation suspendiert.
       
       Im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel gibt es aber sehr wohl
       eine genozidale Absicht, die keine neue Definition erfordert: Daraus macht
       die Hamas keinen Hehl, es steht offen in ihrer Gründungscharta. Und am 7.
       Oktober 2023 versuchte sie schwer bewaffnet so viele Menschen in Israel wie
       möglich zu ermorden. Sie filmte sich sogar dabei, um es der Welt stolz und
       in aller Deutlichkeit zu zeigen.
       
       Auch einige der rund 250 Geiseln, die sie nach Gaza verschleppten,
       ermordeten die Terroristen kaltblütig: Die Bibas-Kinder – erst acht Monate
       und 4 Jahre, als sie entführt wurden – sind laut forensischen
       Untersuchungen in Israel nach ihrer Leichenübergabe Ende Februar, die mit
       ausländischen Geheimdiensten zur Verifizierung geteilt worden sind, „mit
       bloßen Händen“ ermordet worden. Und dahinter steckt eine glasklare
       Intention.
       
       Nach dem Waffenstillstand im Januar trauert die Hamas nicht um einen
       „Genozid“, sie sieht sich auch nicht als Verlierer. Sie feiert immer noch
       schwer bewaffnet und in frisch gebügelten Uniformen den Sieg gegen den
       [14][„Nazi-Zionismus“ in zynischen Propagandazeremonien], während sie bis
       heute 59 Geiseln gefangen hält. Den 7. Oktober, den sie als „Al-Aqsa Flut“
       verherrlicht, zelebriert sie als Erfolg. Und immer wieder betont sie: Sie
       würde es nochmal tun.
       
       9 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-um-Waffenstillstand-im-Gazakrieg/!6073003
   DIR [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/eva-illouz-gaza-genozid-voelkermord-lux.UWYKfzHmx9chVT1E5ErHSC?reduced=true
   DIR [3] /Israels-Kampf-im-Gazastreifen/!6059946
   DIR [4] https://www.ochaopt.org/content/reported-impact-snapshot-gaza-strip-25-february-2025
   DIR [5] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)01169-3/fulltext
   DIR [6] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)01682-9/fulltext
   DIR [7] https://www.wsj.com/world/middle-east/gaza-chiefs-brutal-calculation-civilian-bloodshed-will-help-hamas-626720e7
   DIR [8] https://www.understandingwar.org/backgrounder/israel-defeating-hamas-destroying-hamas-will-require-post-war-vision
   DIR [9] https://henryjacksonsociety.org/
   DIR [10] https://www.jstor.org/stable/44481417?mag=counting-wars-civilian-dead
   DIR [11] https://aoav.org.uk/
   DIR [12] https://www.nytimes.com/2024/12/26/world/middleeast/israel-hamas-gaza-bombing.html
   DIR [13] https://www.amnesty.org/en/documents/mde15/8668/2024/en/
   DIR [14] /Inszenierungen-der-Hamas/!6062006
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicholas Potter
       
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