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       # taz.de -- Serbien besiegt die Angst: Das Volk gegen Vučić
       
       > Studierende besetzen Unis, marschieren durchs Land und entfachen einen
       > Aufstand gegen das korrupte Regierungs-System. Vučićs Rückhalt im Land
       > schwindet.
       
   IMG Bild: 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Forderungen der serbischen Studierenden, Demonstration in Belgrad, 15. März
       
       Belgrad taz | „Bitte vergessen Sie nicht, dass wir vom Geheimdienst
       abgehört werden“, sagt Ivan Đurić. Er und seine Kollegin Tamara Branković
       arbeiten für CRTA, eine der vier regierungskritischen Organisationen, bei
       denen die Polizei kürzlich Razzien durchgeführt hat. 28 Stunden lang wurden
       die Räume durchsucht und alles fotokopiert, was sich fotokopieren lässt.
       Die Behörden begründen dies mit angeblicher Veruntreuung von USAID-Geldern.
       Tatsächlich geht es darum, CRTA als Teil einer Farbrevolution darzustellen
       – eines aus dem westlichen Ausland finanzierten Staatsstreichs.
       
       Seit dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November wird
       [1][in Serbien protestiert.] Die Demonstrant:innen üben scharfe Kritik
       an der Korruption der regierenden serbischen Fortschrittspartei SNS, die
       sie für den Tod von 15 Menschen verantwortlich machen. Sie fordern eine
       Veröffentlichung aller mit dem Bau in Zusammenhang stehenden Dokumente und
       eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.
       
       Die Demos finden im ganzen Land statt. Tamara Branković sieht viel Hoffnung
       in den seit über vier Monaten anhaltenden Protesten, die von Studierenden
       initiiert wurden: „Die Proteste haben Serbiens politische Kultur neu belebt
       – eine engagierte Generation verändert, wie diese Gesellschaft Politik,
       Beteiligung und Rechtsstaatlichkeit begreift.“
       
       CRTA führt repräsentative Studien durch, die [2][Serbiens Präsidenten
       Aleksandar Vučić] missfallen dürften. Sie fanden heraus, dass 80 Prozent
       der Bevölkerung die Forderungen der Studierenden unterstützen und zwei
       Drittel sich in irgendeiner Form an den Protesten beteiligen. Zudem
       betreibt CRTA die Faktencheckseite „Istinomer“, die Desinformation
       aufdeckt. Đurić nennt ein Beispiel: „Vučić wirft dem Rektor einer
       Universität vor, einen Militärputsch zu planen. Es gab viele Putsche in der
       Geschichte, aber nicht von Universitätsdirektoren.“
       
       ## „Die Angst hat die Seiten gewechselt“
       
       Neben Einschüchterungen werden auch andere Methoden angewendet. So wurden
       gegen fünf Mitglieder der liberalen Partei PSG 30 Tage Untersuchungshaft
       verhängt, weil ihnen vorgeworfen wird, einen Umsturz vorbereitet zu haben.
       Gegenüber der taz erklärt die Partei: „Es gibt keine belastbaren Beweise.
       Diese Untersuchungshaft ist ein Beispiel für die fortgesetzte Repression
       des Regimes, das erneut skrupellos sowohl gesetzliche als auch
       verfassungsrechtliche Bestimmungen verletzt.“
       
       Die Büros von CRTA liegen fußläufig entfernt vom Parlament und vom
       Präsidentensitz in Belgrad. Dort zeigt sich, wie Vučićs Strategien ins
       Leere laufen. Im Pionirski Park stand eine Zeltstadt mit angeblichen
       Studierenden, die zurück an die Unis wollten, doch viele entpuppten sich
       als SNS-Funktionäre. Schläger und für Exekutionen in den 1990ern bekannte
       Einheiten kamen zum Park, um die Demonstrierenden einzuschüchtern, doch die
       Studierenden machten sie zu Memes in den sozialen Medien.
       
       Rund um den Park ließ die Regierung am Freitag Hunderte Traktoren
       aufstellen, um zu zeigen, dass sie Unterstützung von Bauern erhält. Nur,
       Bauern waren nicht zu sehen. Bei dem Massenprotest mit rund 300.000
       Menschen war auf einem Schild zu lesen: „Die Angst hat die Seiten
       gewechselt“. In ihren Heimatorten wurden SNS-Funktionäre teils
       beschimpft, in der Kleinstadt Obrenovac mit Eiern beworfen. Auch in
       ländlichen Regionen wird ihnen offen Verachtung entgegengebracht.
       
       Alles deutet darauf hin, dass die Proteste am vorigen Samstag durch eine
       Schallkanone aufgelöst wurden. Plötzlich rannten Menschen los, suchten
       Schutz in Seitengassen und Hauseingängen. Hunderte Zeug:innen berichten
       von einem lauten Knall. Viele litten danach unter Schlafstörungen und
       Benommenheit. Zunächst bestritten die Behörden, solche Waffen zu besitzen.
       Dann hieß es, die Waffe liege ungenutzt im Keller, doch Fotos belegen, dass
       sie draußen stand. Die Version des serbischen Innenministers Ivica Dačić
       lautet inzwischen, dass die Schallkanone zwar da war, aber nur als
       Lautsprecher genutzt wurde. Vučić erklärte, er werde zurücktreten, wenn
       bewiesen werde, dass eine Schallkanone eingesetzt worden sei. Laut
       Investigativnetzwerk BIRN hat die serbische Polizei die illegale
       Schallkanone im November 2023 gegen Geflüchtete eingesetzt. Ein
       Lehrbuchbeispiel, wie Repression, die zuerst gegen „Fremde“ gerichtet wird,
       später nach innen schlägt.
       
       ## Markus Söder nahm einen Orden von Vučić entgegen
       
       Während Vučićs Rückhalt im Land schwindet, erhält er internationale
       Unterstützung. Der chinesische Präsident Xi und Russlands Präsident Putin
       stehen auf seiner Seite. Donald Trump Jr. besuchte ihn jüngst in Belgrad –
       wohl auch wegen eines 500 Millionen Euro teuren Immobilienprojekts seines
       Schwagers Jared Kushner.
       
       Von der EU gibt es bisher keinen öffentlichen Druck auf Vučić.
       [3][Bundeskanzler Scholz sicherte sich Lithium] für die deutsche
       Autoindustrie. Frankreichs Präsident Macron verkaufte Kampfjets.
       EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen lobte Serbiens EU-Kurs und
       Rechtsstaatlichkeit. CSU-Chef Söder nahm in Belgrad einen Orden von Vučić
       entgegen. Das alles binnen weniger Monate.
       
       Vučićs SNS bleibt weiter assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei
       EVP, der auch CDU und CSU angehören. Die EU stellt sich nicht hinter die
       Proteste für Rechtsstaat und Demokratie in Serbien, also stellen sich die
       Studierenden auch nicht hinter EU-Flaggen. Die Proteste unterlaufen Vučićs
       Strategien, weil sie basisdemokratisch in Plenen organisiert sind. Die
       Studierenden verhindern, dass sich Gesichter des Protests etablieren. Den
       Rücktritt von Premierminister Vučević im Januar ignorierten sie weitgehend.
       Sein Rücktritt habe nichts mit ihren Forderungen zu tun – einer Rückkehr zu
       Rechtsstaatlichkeit, Verfassung und funktionierenden Institutionen. Die
       Studierenden fordern Vučićs Rücktritt nicht explizit – weil sie seine
       Autorität nicht anerkennen. „Nije nadležen“ ist ihr Leitsatz: „Er ist nicht
       zuständig.“ Serbien ist laut Verfassung kein Präsidialsystem.
       
       [4][Die Studierenden ignorieren die Lügen regierungsnaher Medien und
       schaffen ihre eigene Sprache]. Zentral ist das „Pumpanje“ – das Pumpen,
       inspiriert von einem Youtube-Video, das einen Turbofolksänger auf einer
       Hochzeit zeigt, der seinen Akkordeonspieler zum „Pumpen“ auffordert,
       während ein 100-Euro-Schein an seiner schweißnassen Stirn klebt. Häufig
       sind die „blutigen Hände“ zu sehen – als Anklage in Richtung derer, deren
       Korruption tötet.
       
       ## Die Proteste sind extrem divers
       
       Die regierungstreuen Fakestudenten werden „Ćaci“ genannt – eine
       fehlerhafte Schreibweise von „Đaci“ in einem regierungstreuen Graffiti.
       „Đaci“ heißt „Schüler“, „Ćaci“ heißt gar nichts, hat sich nun aber als
       Begriff etabliert. Bei den Protesten wird skandiert: „Wer nicht springt,
       ist ein Ćaci.“ Daraufhin springen alle.
       
       Viele Studierende kommen aus Arbeiter-, Bauern- und Angestelltenfamilien.
       Sie haben ihre Eltern und Großeltern überzeugt, dass sie keine
       ausländischen Söldner sind, sondern gegen Korruption kämpfen. In Serbien
       zählt Loyalität zur SNS oft mehr als Leistung – die Partei hat laut eigenen
       Angaben 800.000 Mitglieder in einem Land mit 6,6 Millionen Einwohnern.
       
       Die Proteste sind extrem divers. Die meisten Fakultäten sind besetzt, auch
       in Novi Pazar, wo die Studierenden mehrheitlich Bosniakinnen und Bosniaken
       sind. Ihre nationalen Symbole gehören zum Protest, wie die Flagge der Roma.
       Ein weit verbreiteter Slogan enthält eine homophobe Beleidigung gegen Vučić
       – angestimmt von den Ultras von Partizan Belgrad. Auch Rechtsextreme sind
       dabei, für die Vučić nicht rechts oder Putin-nah genug ist.
       
       Wie sehr die Unterstützung für Vučić bröckelt, zeigt auch, dass jetzt viele
       behaupten, schon immer gegen ihn gewesen zu sein. Vučić wirkt hilflos. Hohe
       Polizeifunktionäre erklärten schon, dass sie nicht ihre eigenen Kinder
       schlagen werden. Ein gewaltsames Durchgreifen würde Vučić endgültig zum
       Diktator à la Lukaschenko machen.
       
       Mit Neuwahlen, wie von Vučić in Aussicht gestellt, lässt sich nicht viel
       erreichen, solange sie von Regierungstreuen ausgezählt werden. Freie und
       faire Wahlen bräuchten demokratische Rahmenbedingungen. Dafür müsste eine
       Übergangsregierung her, doch Vučić weigert sich. Er erklärte in seiner
       typisch überdrehten Art, dass man ihn dafür erst töten müsse. Die
       Studierenden haben indes klargestellt, dass sie weiter pumpen werden.
       
       21 Mar 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Krsto Lazarević
       
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