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       # taz.de -- Israelische Autorin Zeruya Shalev: Aller Erschöpfung zum Trotz
       
       > Eine Begegnung mit der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev, die
       > sich fragt: Was außer einem friedlichen Zusammenleben kann denn das Ziel
       > sein?
       
   IMG Bild: Auf der Bühne eher scheu: Zeruya Shalev bei einer Preisverleihung in Paris
       
       Ende Februar kam Zeruya Shalev nach Deutschland, sie sprach im
       Literaturarchiv Marbach über Kafka und im Berliner „Jüdischen Salon“ über
       „Writing in the War Zone“, so gab es Gelegenheit für ein persönliches
       Treffen. Es geriet – in diesen Wochen des Missvergnügens, der Schocks und
       der Ungläubigkeit – zu einer paradoxen Intervention. Denn bei dieser
       israelischen Autorin ist man gleich zwiefach auf Dramatisches eingestellt.
       
       Zum einen, weil Shalev, seit ihrem Roman „Liebesleben“ (2000) hierzulande
       Bestsellerautorin, in ihrem Werk das menschliche Drama umkreist und
       durchdringt, Geschichten erzählt von Schuld und Verzeihung, von Liebe und
       Hörigkeit, von freudianischer Verstrickung. Zum anderen selbstverständlich,
       weil seit dem 7. Oktober 2023 kein jüdischer Stein auf dem anderen blieb
       und in ihrem Heimatland wie in der Diaspora der Schrecken und die
       Zerwürfnisse kein Ende finden. Es könnte schlimmer nicht sein, nicht wahr,
       und es gibt kaum Licht am Ende des Tunnels?
       
       Darauf war ich gefasst, als ich ihr gegenüber saß, und dann folgte die
       Verblüffung. Nicht, dass sie Heiterkeit ausgestrahlt hätte. Aber auch
       nichts Apokalyptisches, keine Verzweiflung. Und ich bemerkte, während wir
       sprachen, wie mich das rührte und beschäftigte. Sie ist doch, so kann man’s
       sagen, eine Expertin der Schmerzen?
       
       ## Expertin der Schmerzen
       
       Sie lächelt, sie wundert sich, sie bestätigt – und schränkt es ein. Ja,
       [1][in ihren Romanen ist der Schmerz ein starkes Motiv], im doppelten
       Sinne, als Phänomen wie als Treiber vieler Handlungen. Der Schmerz des
       Verlangens, der Sehnsucht, der unfreiwilligen Bindung – die nicht selten
       aus der Vergangenheit rührt, aus schicksalhaften Verkettungen über
       Generationen hinweg.
       
       Ihre Urgroßeltern gehörten zu den ersten Pionieren; Juden aus Osteuropa,
       die noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Palästina auswanderten, um den
       Pogromen zu entgehen und sich im Gelobten Land ein neues Leben aufzubauen.
       
       Ihre Mutter war eines der ersten Kinder, die im Kibbuz Kinneret zur Welt
       kamen, deren erster Mann starb im Widerstand gegen die Briten 1948, und
       Zeruyas Vater war ebenfalls Zionist im ursprünglichen Sinne: nicht die
       arabische Bevölkerung Palästinas war der Gegner, sondern die britische
       Besatzung, die so viele Holocaust-Flüchtlinge an der Einreise hinderte.
       
       ## Kafka vor dem Einschlafen
       
       Mordechai Shalev war außerdem Bibelexperte, „eine Art säkularer Rabbi“, der
       seinen Kindern noch in der Vorschulzeit Kafka zum Einschlafen vorlas (was
       sie in Marbach erwähnte); ihre Kindheit empfand sie als behütet, als
       abgeschieden und still. Was wiederum mit einem privaten Schmerz zu tun hat,
       mit der schweren Erkrankung ihres Bruders, der komplexere medizinische
       Unterstützung benötigte, als sie im Kibbuz möglich war.
       
       So dass es zu einem Kleinfamilienleben an einem College kam, beide Eltern
       Professoren und sie viel beschäftigt mit ihrer Fantasie. Mit den
       Geschichten der jüdischen Tradition und der Familie wie dem milden Leid der
       Abgeschiedenheit. Wie eine Vorbereitung auf das innere Leben ihrer
       Protagonisten.
       
       Doch dann, sage ich, gab es doch den 29. Januar 2004? Im Januar vor 21
       Jahren wurde Shalev das Opfer eines Selbstmordattentäters, der sich mit dem
       Bus neben ihrem Auto in die Luft sprengte. Es war der 137. Bombenanschlag
       seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000, und er bedeutete für sie
       eine lange Geschichte physischen Leids bis hin zu körperlichen
       Einschränkungen, die sich nicht heilen lassen. Ein Moment, der ein Leben in
       vorher und nachher teilt.
       
       ## Überleben des Bombenanschlags
       
       [2][„Es war“, heißt es im Roman „Schmerz“], übersetzt von Mirjam Pressler,
       „noch nicht einmal die Macht der Explosion, jene fast vulkanartige Eruption
       des Zündstoffs, es waren auch nicht die Schrauben und Nägel und Muttern,
       gemischt mit Rattengift, um stärkere Blutungen zu verursachen, die ihre
       Ohren betäubten, sondern ein anderes Geräusch, tiefer und schlimmer als die
       Detonation, das Geräusch, mit dem sich Dutzende Fahrgäste vom Leben
       verabschiedeten, das Klagelied von Müttern, die Waisen zurückließen, die
       Schreie junger Mädchen, die nie erwachsen werden würden, das Weinen der
       Kinder, die nie mehr nach Hause kommen würden, von Männern, die sich von
       ihren Frauen verabschiedeten.“
       
       Ich erlaube mir die Frage, warum sie nicht bitter geworden ist. Denn so
       wirkt sie nicht, und so agiert sie nicht – unter anderem als eine
       Mitbegründerin der Bewegung „Women Wage Peace“, in der arabische,
       muslimische, palästinensische und israelische Frauen unermüdlich gegen die
       Besatzungsmacht Israel und die Regierung Netanjahu protestieren. Das mag
       ihrem Temperament geschuldet sein, sagt sie, aber auch ihrer Herkunft aus
       diesem progressiven, sakülaren zionistischen Milieu, das sich, trotz aller
       Erschöpfung und Enttäuschung, immer wieder erneuert.
       
       Was, außer einem friedlichen Zusammenleben in zwei Staaten, könne denn
       überhaupt ein Ziel sein? Ich wage die Vermutung, dass die politische Ruhe,
       die sie – trotz aller realen Erschöpfung und Enttäuschung – ausstrahlt,
       vielleicht auch aus dem Zeithorizont der Geschichten herrührt, mit denen
       sie als Kind so gefüttert wurde wie mit Milch und Hummus: Wer sich in
       Jahrhunderten der Diaspora bewegt, ist möglicherweise resistenter gegen
       Jahrzehnte der heimischen Frustration?
       
       Darüber wäre nachzudenken, sagt sie. Am Abend, vor dem Publikum der
       Berliner Volksbühne im Gespräch mit Shelly Kupferberg, führt sie die beiden
       Seiten ihrer Existenz, die Israelin und die Autorin, wieder zusammen. Das
       Schreiben, sagt sie, kam ihr nach dem 7. Oktober als erstes abhanden. Gegen
       die absolute Zerstörung kann es, so resümiert sie die vergangenen
       anderthalb Jahre, nichts ausrichten.
       
       ## Kummer, Pein und Angst
       
       Die Hälfte des Herzens, „half of the heart“, liegt brach, die Hälfte des
       Verstandes ist gelähmt von Kummer, von Pein und Angst. Die Opposition sei
       in einer nahezu aussichtslosen Lage gegenüber einer so kriminellen wie
       faschistischen Regierung. Und die Armee könne die Bürger, wenn auch
       unvollkommen, vor der Hisbollah und anderen äußeren Feinden schützen – aber
       nicht gegen den eigenen Staat. Und doch, sagt sie, gibt es an jedem
       Samstagabend große Demonstrationen, „where you can see the beautiful face
       of Israel, which seems almoust forgotten in the world“.
       
       Auf der Bühne ist sie eher scheu; zurückgenommen, langsam in ihren
       Antworten. Sie denkt nach, sucht nach den richtigen Worten. Bleibt immer
       bei sich. Ja, die Hamas ist kein Partner, denn sie will Israel vernichten
       und jüdische Menschen töten – aber das ist die gegenwärtige Hamas. Und sie
       kennt arabische Israelis, Palästinenser, Muslime, die nicht hassen, die
       nach Lösungen suchen, wie sie.
       
       ## Nicht Schmerz, sondern Dankbarkeit
       
       Ihr bislang letztes Werk als Autorin war ein Text für eine Anthologie.
       Soldaten waren vor einem gefährlichen Einsatz von ihrem Kommandanten
       angehalten worden, Abschiedsbriefe zu schreiben. Zu ihrem Erstaunen stand
       in all diesen Briefen nicht der Schmerz im Mittelpunkt, sondern die
       Dankbarkeit. Für die Fürsorge der Eltern, für die Obhut in den
       Institutionen, für eine Gesellschaft, die das Leben höher schätzt als das
       Märtyrertum und den Tod. Und das sei doch die elementare politische
       Unterscheidung, zwischen Menschen wie zwischen Kulturen.
       
       Die innere Bewegtheit und die aufmerksame Beweglichkeit, die Shalev als
       Bürgerin wie als Autorin repräsentiert, erinnert an einen Gedanken der
       Heldin von „Schmerz“, einer Lehrerin der Geschichte: „Wodurch lernen wir
       etwas über die Vergangenheit, wenn nicht aus der Gegenwart?“ Paradoxien
       liegen ihr eigentlich weniger als vielen ihrer israelischen Kolleg:innen.
       Doch die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der sie Trauer, Schmerz
       und zugleich eine alternativlose Zuversicht verbindet, hat in diesen
       absurden Zeiten eine bezwingende Kraft.
       
       24 Mar 2025
       
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