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       # taz.de -- 100. Todestag von Rudolf Steiner: Nichts zu danken
       
       > Unsere Kolumnistin hat auf ihre Waldorf-Vergangenheit lange mit
       > Dankbarkeit geblickt – wie die, die Steiner zu seinem Todestag grüßen.
       > Dann begann ihr Erwachen.
       
   IMG Bild: Danke Rudolf? Da ist sich Frau Lea nicht mehr so sicher. Hier, eine Waldorf-Schule mit Rudolf Steiner Porträt an der Wand
       
       „Danke, Rudi!“ So heißt eine Aktion von ehemaligen Waldorfschülern zum 100.
       Todestag ihres [1][Gründers Rudolf Steiner]. Auch ich war über Jahrzehnte
       brav dankbar. Und finde es nun selbst verwunderlich, dass ich erst so spät
       angefangen habe, [2][meine Schulzeit kritisch zu sehen]. Aber damit bin ich
       nicht alleine.
       
       Für seine Doku „De utvalda barnen“ (Die auserwählten Kinder) besuchte
       Regisseur Jasper Lake mit Mitte 40 seine ehemalige Waldorfschule. Er hatte
       sie in guter Erinnerung, stieß aber im Laufe seiner Recherchen auf immer
       verstörendere Untiefen von Gewalt und ideologisch geprägtem Handeln.
       
       Das veränderte die Beziehung zu seiner alten Lehrerin und die Perspektive
       auf seine Schulzeit: „Es war eine schmerzhafte Reise zurück in meine
       Vergangenheit. Mein romantisiertes Bild von der Schule zerbrach. Ich
       versuche Worte zu finden, die zusammenfassen, was ich durchgemacht habe.“
       Die dreiteilige, schwedische Dokumentation aus dem Jahr 2021 hat mich von
       allen waldorfkritischen Veröffentlichungen bisher am tiefsten berührt.
       
       ## Die undankbare Nestbeschmutzerin
       
       „Danke, Rudi!“ – Dankbarkeit, zu den etwa 1 Prozent der deutschen
       Schulkinder zu gehören, die auserwählt wurden, einen Waldorfschulplatz zu
       bekommen. Dankbarkeit, Eltern zu haben, die einem das ermöglichen.
       Dankbarkeit, unter so „engagierten Lehrkräften“ gelernt zu haben.
       Dankbarkeit für schöne Räume, Handwerk und „keine Noten“. Dankbarkeit,
       nicht auf eine „gefühlskalte Staatsschule“ zu müssen.
       
       Und immer wenn ich grundsätzliche Kritik übte, fühlte ich mich als
       undankbare Nestbeschmutzerin. Waldorfkritik von Betroffenen verletzt immer
       auch Menschen, die das Beste für einen wollten und teilweise viel dafür
       geopfert haben. Zum Glück ermöglichen Pseudonyme es, Erfahrungen erzählen
       zu können und dennoch die Privatsphäre all jener Personen zu schützen, mit
       denen man aufgewachsen ist. Es geht schließlich meist um Rudis Pädagogik
       als solche und nicht um einzelne Personen oder Einrichtungen.
       
       Mit der Zeit wurde mein „Danke, Rudi!“ zu einem #fckstnr. Die kritische
       Aufarbeitung ehemaliger Waldorfkinder in den sozialen Medien habe ich als
       große Erleichterung empfunden: spüren, dass man eben kein „Einzelfall“ ist,
       sondern viele Probleme strukturell bedingt sind; unter #exwaldi öffentlich
       wütend und anklagend sein dürfen – statt dankbar. Meine Dankbarkeit stand
       meiner individuellen Entwicklung lange im Weg. Zumal „Waldorf“ für mich
       identitätsstiftend war und die Kritik daher auch an meinem Selbstbild
       kratzte.
       
       ## Das Schweigen brechen
       
       „Schweigen wir über alles das, was wir handhaben in der Schule. Halten wir
       uns an eine Art Schulgeheimnis“, sagte Rudi 1919 in einer Lehrerkonferenz.
       Wenn aber über Jahrzehnte geschwiegen wurde, ist es umso schwerer, das
       Schweigen zu brechen. Das gilt nicht nur für Waldorfschulen.
       
       Meg Applegate schreibt in ihrem Buch „Becoming Unsilenced“, sie habe noch
       18 Jahre nach Verlassen eines therapeutischen Internats erzählt, dass diese
       Schule das Beste gewesen sei, was ihr habe passieren können. Sie habe die
       Einrichtung gelobpreist und behauptet, dass sie ihr Leben gerettet habe.
       Sie schreibt auch, dass viele Betroffene institutionellen Missbrauchs
       erst mit über 40 Jahren zu verstehen anfingen, was eigentlich mit ihnen
       passiert sei, und erst dann seien sie auch in der Lage, es in Worte zu
       fassen.
       
       Zumindest was den Regisseur Lake und mich betrifft, hat sie recht.
       
       24 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Frau Lea
       
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