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       # taz.de -- Berliner Schnauze am Wochenende: Ein rauer Singsang mit gebirgiger Bewegung
       
       > Der ausufernde Rhythmus der Sätze kennzeichnet den Berliner Dialekt
       > unserer Autorin. Am Wochenende stößt sie immer wieder auf ihn.
       
   IMG Bild: Taugt auch für tröstenden Graffiti: berlinern
       
       Am Freitagabend in der Tennis-Bar erzählt mir eine Arbeitskollegin, dass
       sie im Berliner Norden aufgewachsen ist, „[1][da bei Bonnies Ranch].“ Ich
       zucke zusammen – Bonnies Ranch, das habe ich seit mindestens einem
       Jahrzehnt niemanden mehr sagen hören. Die Bezeichnung löst in mir eine
       große Vertrautheit aus, schließlich kenne ich die „Ranch“ genauso wie sie,
       bin unweit von ihr groß geworden. „Bonnie“, der Psychiater Karl-Bonhoeffer,
       hat sich tief in das Ur-Berliner Sprachgedächtnis eingegraben.
       
       Die ehemalige Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Wittenau, ganz am
       anderen Ende der U8, heißt im Berliner Jargon also nach wie vor Bonnies
       Ranch. In den 50er Jahren soll Schauspieler Klaus Kinski dort kurzzeitig
       aufgenommen worden sein und [2][in den 70ern lebte Christiane F.] auf
       Bonnies Ranch, für einen Heroinentzug. In meiner Familie war die
       Formulierung „ab nach Bonnies Ranch“ daher eine gebräuchliche und ziemlich
       unsensible Metapher für das Verrücktwerden.
       
       Orte, wie diese ehemalige Nervenklinik mit verniedlichenden Namen zu
       versehen, ist kein seltenes Phänomen und eines, das sich offensichtlich
       hält. Die Ranch faszinierte mich aber vor allem deshalb immer, weil ich
       mich mit dem Berliner Dialekt so richtig schön in den Begriff hineinlegen
       konnte: Bonnies Ränsch. Neben Karl „Bonnie“ ist nämlich auch das Berlinern
       tief in meiner Sprache eingebrannt und ich hole es gelegentlich hervor.
       
       ## Der Berliner Jargon löst vertraute Freude aus
       
       Auf Menschen zu treffen, mit denen ich durch den Berliner Jargon jagen
       kann, ist eine vertraute Freude – Beziehungen haben sich schon darüber
       gebildet, man findet sich. Dabei geht es beim Berlinern, so meine
       Erfahrung, weniger um bestimmte Worte als um den Rhythmus der Sätze, die
       man bildet: ein ausuferndes Auf- und Abbewegen von Wörtern und Silben, bei
       der sich die Kopf- und Bruststimme gegenseitig abwechseln.
       
       Das Berlinern ist ein rauer Singsang, in den man sich hineinwerfen kann,
       eine gebirgige Bewegung, um sich stimmlich zu verausgaben. In meinen Ohren
       ertönen meine Neuköllner Tanten und Onkel, wenn ich zum Dialekt ansetze,
       ihre Worte sind für immer in meinem Körper gespeichert. Die derb-herzlichen
       Kommentare und Sprichwörter von ihnen nehme ich und setze sie ins Heute,
       teile sie mit meinen Leuten, die ganz anders sind als meine urige Berliner
       Verwandtschaft.
       
       Der Dialekt ist für mich also eine soziale Angelegenheit – und deshalb
       suche ich auch regelmäßig nach Gleichgesinnten. Im Übrigen ist eine
       Berliner Verwurzelung beim Sprechen vollkommen egal, vielmehr geht es
       darum, den typischen Singsang des Dialekts zu bespielen. Am Samstagabend
       bin ich wieder in meinem Sprachelement.
       
       Auf einer Geburtstagsparty raunt mir ein Freund zu: „Der da drüben hat eine
       sehr gute [3][Kopfstimme]!“ Ein Musiker. Ich setze mich später
       unaufdringlich neben ihn, auf meine Nachfrage hin lehnt der Sänger dann
       aber ab. Berlinern will er mit mir trotz verheißender Kopfstimme nicht. Zu
       der Vertrautheit in der Wiederbegegnung mit Bonnies Ranch mischt sich im
       Laufe des Wochenendes Unbehagen.
       
       Der Ort, der so viele Epochen und Namensänderungen durchlaufen hat, hat,
       kurz gesagt, eine grausame Historie, die mein flapsiges Bonnies Ränsch
       nicht ansatzweise einfängt. „Bonnie“ kommt zwar erst 1946 in die
       westberliner Klinik, um psychisches Leid nicht mehr mit Gewalt zu
       behandeln, die Geschichte des Ortes bleibt aber trotzdem hinter der
       Verniedlichung zurück. Ich nehme mir vor, die mittlerweile geschlossene
       Klinik einmal zu besuchen.
       
       25 Mar 2025
       
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