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       # taz.de -- Weniger Arme in teuren Vierteln: Bremen kürzt Budget fürs Wohnen
       
       > Mietzuschüsse für begehrte Stadtteile sollte Sozialhilfeempfängern das
       > Wohnen dort ermöglichen. Jetzt wird das Mittel zur Durchmischung
       > abgeschafft.
       
   IMG Bild: Im Bremer Szenestadtteil „Viertel“ wohnen? Das können sich nach der neuen Senatsentscheidung noch weniger Arme leisten
       
       Bremen taz | Wer Sozialhilfe bekommt, dürfte es in Bremen ab sofort noch
       schwerer haben, eine neue Wohnung zu finden: Viele Wohnungen, deren Miete
       bisher noch vom Jobcenter oder Sozialamt übernommen wird, gelten bald als
       zu teuer. Denn ein Instrument, das zur besseren Durchmischung der Stadt
       beitragen sollte, wurde von Gerichten abgelehnt, – und wird vom
       rot-rot-grünen Senat nun abgeschafft.
       
       Sozialhilfe- und Bürgergeldempfänger*innen, bekommen auch ihre Mieten
       erstattet – zumindest in „angemessenem Rahmen“. Alle paar Jahre müssen
       Städte neu definieren, was so ein „angemessener Rahmen ist“. Auch Bremen
       hat vergangene Woche seine „Angemessenheitswerte“ angepasst – und dabei
       faktisch gekürzt, was Menschen tatsächlich für ihre Miete ausgeben können.
       
       Auf den ersten Blick wirken die Veränderungen klein: Abgesehen von großen
       Haushalten mit sechs oder mehr Personen, die demnächst einen deutlich
       höheren Mietrahmen ausschöpfen dürfen (plus 108 Euro), wurden die
       Richtwerte nur ganz geringfügig heraufgesetzt. Ein Ein-Personenhaushalt
       etwa bekommt künftig 428 Euro für seine Kaltmiete ersetzt – zwei Euro mehr,
       als bisher. Bei Zwei-Personen-Haushalten gibt es einen Euro mehr als
       bisher.
       
       Ermittelt wurden die neuen Richtwerte in einem Gutachten der Bochumer
       Inwis; das Institut ist auf Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und
       Regionalentwicklung spezialisiert. Zurückgreifen konnten die Gutachter
       dafür auf den neuen Bremer Mietspiegel – das Instrument zum Vergleich der
       Miethöhen wurde für Bremen erst 2024 eingeführt.
       
       ## Keine Ausnahmen mehr für teurere Stadtteile
       
       Die faktische Kürzung kommt zustande, weil der Senat gleichzeitig mit der
       Anpassung der Angemessenheitswerte eine Sonderregel abgeschafft hat: Bisher
       nämlich gab es in bestimmten Stadtteilen Ausnahmen von der
       Angemessenheitsregel.
       
       Dort, wo weniger als 15 Prozent der Haushalte Sozialhilfe bekommen, konnten
       auch höhere Mieten übernommen werden: In Mitte, der Neustadt, in
       Obervieland, der Östlichen Vorstadt, in Schwachhausen, Horn-Lehe,
       Oberneuland, Hemelingen und Findorff war es möglich eine Wohnung auch dann
       zu beziehen, wenn sie bis zu zwölf Prozent teurer ist, als die Richtwerte
       das vorsehen.
       
       Sichergestellt werden soll so, dass auch
       Sozialhilfeempfänger*innen dort eine Wohnung bekommen können. Ein
       Instrument zur [1][politisch gewünschten Durchmischung der Stadt,] gegen
       Segregation und Ghettoisierung.
       
       Doch diese Praxis glaubt das Sozialressort nicht mehr fortführen zu können
       und verweist dabei auf einige Gerichtsurteile. Das Bundessozialgericht
       hatte 2019 entschieden, dass „unterschiedliche Angemessenheitswerte
       innerhalb eines Vergleichsraums“ kein Konzept begründen dürften; das
       Landessozialgericht Niedersachsen/Bremen bewertete die Bremer
       Stadtteil-Zuschläge 2022 als „unschlüssig“. Der Senat sieht seine Hände
       gebunden.
       
       Wie viele Haushalte bisher von den höheren Zuschüssen profitieren, also nur
       deshalb eine Wohnung in einem bestimmten Stadtteil bekommen konnten, das
       erheben weder Sozialressort noch Jobcenter. Für die bestehende Mietverträge
       gibt es einen Bestandsschutz. Der Bremer Erwerbslosenverband sorgt sich
       aber um die Zukunft. „Es ist nicht nur Sozialabbau, was das von
       SPD-Sozialsenatorin Schilling geführte Sozialressort hier beschlossen hat“,
       sagt Berater Tobias Helfst. „Es ist ein Skandal: Arme und Erwerbslose
       werden so auch im Wortsinne an den Rand gedrängt, an den Stadtrand. So
       zementiert das Sozialressort Ghettobildung.“
       
       Genau das versucht [2][das Gutachten von Inwis] zu widerlegen. In seiner
       Analyse kommt der Wirtschaftswissenschaftler Michael Neitzel zum Fazit: Es
       gibt in Bremen überhaupt kein Problem, eine günstige Wohnung zu bekommen.
       65,2 Prozent der Wohnungen lägen ohnehin im Rahmen dessen, was das
       Jobcenter bezahlt. Dabei brauchen nur 32,4 Prozent der Menschen als
       Leistungsempfänger*innen eine solche Wohnung.
       
       Preisunterschiede innerhalb der Stadt sieht die Studie zwar. Aber selbst in
       Bremen-Mitte, wo es laut dem Gutachten am wenigsten erschwinglichen
       Wohnraum gibt, kommen noch 24 Prozent der Wohnungen für
       Sozialhilfeempfänger*innen in Frage. Von einer „Ghettoisierung“
       von Sozialhilfeempfänger*innen in wenigen billigen Stadtteilen
       könne keine Rede sein – zumindest nicht aufgrund der Mietkosten.
       
       „Die Angemessenheitsgrenzen in Bremen“, schließt die Studie, „sind als sehr
       hoch einzustufen“. Das Gutachten hat dem Senat damit freie Bahn gegeben,
       den von Gerichten kritisierten Wohnlagenzuschlag abzuschaffen.
       
       ## Freie Wohnungen sind rar
       
       Doch das Ergebnis widerspricht Erfahrungswerten zu steigenden Mieten in
       Bremen. Eine kurze Online-Recherche etwa bei Immobilienscout liefert nur
       eine einstellige Zahl an Wohnungen, die innerhalb der
       Angemessenheitsgrenzen liegen – allerdings tatsächlich verteilt über
       unterschiedlich situierte Stadtteile.
       
       Der Bremer Mietmarkt ist insgesamt angespannt: Wer eine Wohnung hat, zieht
       kaum um. Die Fluktuationsrate liegt bei etwas über 7 Prozent – als gesund
       gelten Werte zwischen 8 und 12 Prozent. Die Leerstandsquote liegt bei unter
       2 Prozent – bei den sozialen Wohnungsbauunternehmen [3][Gewoba waren es für
       die Stadt Bremen 2024 sogar nur historisch niedrige 0,48 Prozent].
       Erschwingliche Wohnungen sind nicht auf dem Markt. Die Warmmiete für eine
       durchschnittliche Drei-Zimmer-Wohnung ist [4][seit 2016 um 150 Euro
       gestiegen.]
       
       Das Gutachten konzentriert sich in seiner Bewertung stark auf den
       Mietspiegel – und damit auf Bestandsmieten. Dass „Angebotsmieten“, also für
       Wohnungen, die aktuell zu haben sind, höher sind, wird zwar bei der
       Berechnung der neuen Richtwerte berücksichtigt, in der Argumentation gegen
       Mietzuschüsse spielt es aber kaum eine Rolle – dort wird ausschließlich mit
       den günstigen Bestandswohnungen argumentiert.
       
       Die Zahlen aus der Studie zweifelt Dominik Santner, Referent der
       Arbeitnehmerkammer für Infrastrukturpolitik, nicht grundsätzlich an.
       Verständnis äußert er auch dafür, dass die Stadt eine rechtssichere Lösung
       finden musste. Dass der Mietzuschuss gestrichen wurde, findet er dennoch
       „sehr misslich“: „Eine gut funktionierende Stadt muss gut durchmischt sein.
       Das muss heißen, dass auch in Schwachhaussen und im Viertel Menschen mit
       geringem Einkommen leben müssen.“ Die sozialpolitische Dimension des Themas
       werde mit der Streichung nicht mehr abgebildet.
       
       ## Hamburg behält „Stadtteil-Zuschlag“ bei
       
       Rechtssichere Lösungen hätte es womöglich auch andere geben können: Auch
       Hamburg praktiziert Zuschläge für bestimmte Gebiete – dort aber gibt es
       keine Pläne, das zu ändern. Der sogenannte „Stadtteil-Zuschlag“ „wird zur
       Vermeidung von Segregation weiterhin als sinnvoll erachtet“, schreibt ein
       Sprecher der Sozialbehörde auf Anfrage.
       
       Hier haben die Sozialgerichte das Vorgehen der Stadt bisher mehrfach
       bestätigt. Die Hamburger Sozialbehörde erklärt das damit, dass Hamburg sich
       von jeher bei der Festsetzung auf einen qualifizierten Mietspiegel berufen
       konnte; Bremen hat den erst 2024 eingeführt. „Die Rechtsprechung zu der
       Bremer Regelung ist daher nicht auf die Hamburger Regelung übertragbar.“
       
       Für Bremer Sozialhilfeempfänger*innen wird die Auswahl an
       möglichen Wohnungen jetzt erst einmal kleiner. Der Senat will die
       Entwicklungen im Auge behalten: Ob es durch die Abschaffung wirklich nicht
       zu mehr Segregation und Ghettobildung kommt, das „soll perspektivisch
       evaluiert werden“, so heißt es in der Senatsvorlage.
       
       29 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bremer-Konzept-fuer-soziale-Vielfalt/!6060070
   DIR [2] https://sd.bremische-buergerschaft.de/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZee_BjhVvOkNqd187wb52swQB6lyD4NcR7s1hv-syUUT/TOP_II.3.1_-S-_Kosten_der_Unterkunft_Anlage2.pdf
   DIR [3] https://www.gewoba.de/unternehmen/presse/details/gewoba-investiert-166-millionen-euro-in-den-wohnungsbestand-und-neubau-9142116
   DIR [4] https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/mietpreise-bremen-entwicklung-104.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lotta Drügemöller
       
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