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       # taz.de -- RAF-Erinnerungen von Silke Maier-Witt: Radikalisierung – aus zeitlicher Distanz rekonstruiert
       
       > Vom Antifaschismus zum Antiimperialismus: eine Nachkriegsjugend in
       > Westdeutschland. Silke Maier-Witt schreibt über ihren Weg in den linken
       > Terrorismus.
       
   IMG Bild: Bei der Entführung Schleyers im Jahr 1977 in Köln tötete die RAF seine vier Begleiter
       
       „Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte
       Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit
       Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Péguy in Mülhausen
       in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren
       Schmerz und unsere Wut über die Massaker in Mogadischu und Stammheim ist
       sein Tod bedeutungslos.“ Diese Sätze gehören zu einer Erklärung der Rote
       Armee Fraktion (RAF), die Silke Maier-Witt am 19. Oktober 1977 der Pariser
       Tageszeitung Libération telefonisch übermittelte. Als Logistikerin war
       Maier-Witt 1977 an Entführung und Ermordung des westdeutschen
       Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beteiligt. Sie löste eine der
       schwersten Krisen der Bundesrepublik aus.
       
       Erst im April 1977 hatte sich die damals 27-Jährige der linksextremen RAF
       angeschlossen. Wie es dazu kam, schildert sie in ihrem gemeinsam mit dem
       Journalisten André Groenewoud verfassten Erinnerungsbuch „Ich dachte, bis
       dahin bin ich tot“. Aus zeitlicher Distanz rekonstruiert Maier-Witt ihre
       Radikalisierung. Sie erzählt von ihrem Leben vor, während und nach der
       Guerilla. Dabei vermeidet sie es, Taten und frühere Einstellung zu
       beschönigen. Auch wenn sie, wie sie rückblickend sagt, Zweifel hatte, die
       sie in ihrer radikalen Phase jedoch unterdrückte. Die Verantwortung für
       begangene Verbrechen räumt sie ein.
       
       Anekdotisch erzählt sie auch von Kuriosem aus dem Untergrund: Sie erinnert
       sich, wie Stefan Wisniewski beim Tanzen in einer Pariser Disko der Revolver
       aus der Hose fiel. Oder man wegen Peter-Jürgen Boocks Drogensucht absurde
       Risiken eingehen musste. Subjektive Perspektiven sind im RAF-Kontext eher
       ungewöhnlich. Die aktuellen Briefe des flüchtigen Burkhard Garweg, von taz
       und nd dokumentiert, bedienen sich nach wie vor eines objektivierenden und
       floskelhaften Jargons. Ähnliches ist auch von [1][Daniela Klette in ihrem
       Prozess zu erwarten].
       
       Maier-Witt, geboren 1950, will in ihrem Buch als Individuum sprechen.
       [2][Im November 2017 bat sie Jörg Schleyer, den jüngsten Sohn von Hanns
       Martin Schleyer, in einem Brief um Verzeihung]. Die beiden trafen sich auch
       zu einem Gespräch.
       
       Als Maier-Witt 1991 in der Bundesrepublik rechtskräftig verurteilt wurde,
       zählte sie schon lange nicht mehr zur RAF. Von 1980 bis 1990 lebte sie mit
       Legende in der DDR. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) half ihr und
       anderen RAF-Aussteigern dabei. 1990 wurde sie enttarnt und verhaftet. Nach
       der Verbüßung ihrer Strafe schloss sie ein Studium der Psychologie ab.
       Danach arbeitete sie als Peacekeeperin im Kosovo, heute lebt sie in
       Nordmazedonien.
       
       ## Die zweite Generation der RAF
       
       Mit dem (kleinbürgerlichen) Leben in der DDR haderte Maier-Witt nach ihren
       Schilderungen immer wieder. Und dennoch war die sozialistische DDR für sie
       die Möglichkeit, dem Aktionismus, der autoritären Gruppendynamik und
       mörderischen Logik der RAF zu entfliehen, ohne sich den westdeutschen
       Behörden stellen zu müssen. In den DDR-Alltag suchte sie sich – unter
       Aufsicht der Stasi – mit Eifer zu integrieren. Doch anders etwa als Inge
       Viett in ihrer Autobiografie vermeidet sie eine glorifizierende Überhöhung
       ihrer selbst oder der DDR.
       
       Maier-Witt gehörte ab April 1977 zur sogenannten zweiten Generation der
       RAF. Deren Hauptziel war die „Big Raushole“, die Befreiung der
       [3][RAF-Gründergeneration]. Fast sämtliche bekannten Mitglieder der RAF um
       Andreas Baader und Gudrun Ensslin befanden sich nach der „Mai-Offensive“
       1972 – den schweren Anschlägen auf Justiz, Polizei, US-Militär und
       Springer-Verlagshaus – im Gefängnis.
       
       1971 hatte die Gruppe ihr Strategiepapier „Das Konzept Stadtguerilla“
       veröffentlicht und mit einem Mao-Zitat eingeleitet: „Zwischen uns und den
       Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!“ Die RAF-Gefangenen versuchten
       durch Hungerstreiks die Lage weiter zu eskalieren. Ihre Anwälte brachten
       heimlich Anweisungen nach draußen. Folter, Vernichtungshaft, Faschismus –
       man drang auf heftige Taten.
       
       Maier-Witt war in Hamburg ab 1974 im „Komitee gegen Folter“ aktiv. Sie
       studierte Medizin, lebte in feministischen Wohngemeinschaften,
       experimentierte mit Drogen, war an Hausbesetzungen beteiligt. Die
       gesellschaftliche Stimmung war stark polarisiert.
       
       „Mit sechzehn geriet ich zum ersten Mal mit meinem Vater aneinander“,
       schreibt Silke Maier-Witt in der Rückschau auf ihre Zeit als Teenagerin
       Mitte der 1960er in Hamburg. „Dieser Konfrontation habe ich im Nachhinein
       große Bedeutung beigemessen.“ Vater und Tochter stritten darüber, warum
       über die Zeit vor 1945 nicht gesprochen wurde. Später im Gefängnis erfuhr
       sie, dass ihr Vater im Dritten Reich bei der SS gewesen war. Ebenso wie das
       RAF-Opfer Schleyer.
       
       Die Auseinandersetzung, die Maier-Witt mit ihrem Elternhaus führte – die
       Mutter früh verstorben, der Vater erneut verheiratet –, war neben Tabus von
       einer weit verbreiteten Lieb- und Verständnisloskeit gegenüber Kindern und
       Jugendlichen geprägt. Den Vater beschreibt sie als emotional abwesenden
       Mann, der nach 1945 Anerkennung vor allem im Beruf und außer Haus suchte.
       
       ## Der Respekt vor Eltern und Staat war dahin
       
       Die Revolte von 1967/68 erfasste nach einem US-Aufenthalt auch seine
       Tochter. „In der Schule bekam ich eine neue, junge Geschichtslehrerin“,
       schreibt Maier-Witt. „Zum ersten Mal hörte und las ich Fakten und Zahlen
       über die Gräueltaten der Deutschen während des Nationalsozialismus. Sechs
       Millionen systematisch ermordete Juden, Hunderttausende ermordete Sinti und
       Roma, Millionen auf grausame Art umgebrachte Zivilisten in Russland.“ Der
       Respekt vor Eltern und Staat war dahin. Man lebte in einer Demokratie,
       darin verborgen aber viele frühere Nazis.
       
       Für Mädchen und Frauen war der Alltag besonders repressiv. Maier-Witt
       erinnert sich an ein Ereignis: „Eines Abends, ich war bestimmt schon
       achtzehn Jahre alt, stand ein junger Mann vor der Tür mit einer Rose in der
       Hand. Er wollte mich abholen. Mein Vater verpasste ihm eine Ohrfeige.“
       Volljährig war man erst mit 21.
       
       Später wird sie, da schon Teil des Untergrunds, in Hamburg auf offener
       Straße überfallen und vergewaltigt. Der Täter wird geschnappt, doch sie
       erstattet keine Anzeige, will keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.
       
       Maier-Witts biografische Erzählungen markieren keinen logischen Weg in den
       Untergrund. Doch Postfaschismus, Paternalismus, Notstandsgesetze,
       Vietnamkrieg und Kalter Krieg bilden die Kulisse für die Radikalisierung um
       1967/68.
       
       Silke Maier-Witt berichtet auch über ihre militärische Ausbildung bei der
       palästinensischen PFLP. Andere waren in Jordanien, sie im Südjemen.
       [4][Warum sich so viele Linksextremisten in Palästinenser (wortwörtlich)
       verliebten], kann sie nicht erklären.
       
       Aber immerhin spricht sie davon und rückblickend auch von dem
       PFLP-Kommando, das zur Unterstützung der Schleyer-Entführung eine
       Lufthansa-Maschine, die „Landshut“, entführte. Es ermordete den Flugkapitän
       und selektierte die jüdischen von den übrigen Passagieren.* Völkischer
       Antiimperialismus, Hass auf Israel, USA und kapitalistische Demokratie
       [5][überlagerten bei der RAF den humanistischen Antifaschismus].
       
       Mit dem Desaster von 1977, dem Suizid der in Stammheim einsitzenden
       RAF-Führung, verlor Maier-Witt die Überzeugung. „Wir töteten nicht mehr, um
       politisch etwas zu bewegen, [6][sondern um RAF zu bleiben“], schreibt sie.
       Zwei Jahre später steigt sie aus. „Am 8. April 1977 habe ich meine Waffe
       erhalten, am 21. November 1979 habe ich sie abgegeben.“
       
       *Nachträgliche Anmerkung des Autors: „Die Mitglieder der RAF stimmten
       einhellig dafür, dass mit der 'Landshut’ ein Flugzeug mit über neunzig
       unschuldigen Menschen an Bord entführt wurde, nur um den Druck auf deutsche
       Behörden zu erhöhen. Dass die Entführer dann auch Juden und Nichtjuden
       selektierten, wird kaum noch erwähnt“, schreibt Silke Maier-Witt in ihrem
       Buch. Die RAF bejubelte zwar den Überfall palästinensischer Extremisten auf
       das israelische Olympia-Team 1972 in München. Auch bei der 1976
       stattfindenden Flugzeugentführung einer Air-France-Maschine nach Entebbe in
       Uganda selektierte ein palästinensisch-deutsches Terrorkommando
       israelische, aber auch (vermutet) jüdische Passagiere von den restlichen
       Passagieren. Doch bei der Landshut-Entführung 1977 scheint ein solches
       Vorgehen nicht wirklich belegt. Das PFLP-Terrorkommando hatte vor, die
       Maschine und unterschiedslos sämtliche der an Bord verbliebenen 90
       Passagiere und Besatzungsmitglieder im somalischen Mogadischu bei Ablauf
       ihres Ultimatums in die Luft zu jagen. Ein Kommando aus deutscher GSG9 und
       britischem SAS kam dem zuvor. Es konnte alle Geiseln am 18.Oktober 1977
       lebend befreien.
       
       27 Mar 2025
       
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