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       # taz.de -- Autobiografie von Lumumbas Beraterin: Panafrikanische Netzwerkerin
       
       > Vom Waisenhaus zur Regierungsberaterin: Andrée Blouins Lebenserinnerungen
       > erzählen von ihrem Kampf gegen die brutale Kolonisierung Schwarzer.
       
   IMG Bild: Die überzeugte Panafrikanistin knüpfte Kontakte zwischen verschiedenen afrikanischen Ländern
       
       Zuerst ein Dementi: Anders als ihre weiße Namensvetterin, Dolores Ibárurri
       Gomez, genannt „La Pasionaria“, war Andrée Blouin (1921–1986), „die
       Schwarze Pasionaria“, zu keinem Zeitpunkt Stalinistin. Jetzt lässt sich
       das endlich nachprüfen: Blouins Autobiografie – „My Country, Africa:
       Autobiography of the Black Pasionaria“ –, ursprünglich 1983 erschienen,
       aufgrund von Rechtsstreitigkeiten seit rund 40 Jahren vergriffen, ist nun
       in aktualisierter Fassung neu aufgelegt: Erweitert um ein Vorwort von Adom
       Getachev und Thomas Meaney und ein Nachwort ihrer Tochter Eva Blouin.
       
       Wer war Andrée Blouin? Aufmerksamen ZuschauerInnen wird sie etwa im
       [1][belgischen Dokumentarfilm „Soundtrack für einen Staatsstreich“ (Regie:
       Johan Grimonprez) aufgefallen sein, der momentan in der Arte-Mediathek zu
       sehen ist]. Dort tauchte Andrée Blouin an der Seite des kongolesischen
       Politikers und Präsidenten Patrice Lumumba auf, der 1961 von einem
       belgischen Söldner und mit Duldung der CIA ermordet wurde. Anders als
       Lumumba, konnte Blouin ihrer drohenden Ermordung im letzten Moment nach
       Europa entfliehen.
       
       Bereits vor der Unabhängigkeit von „Belgisch-Kongo“ 1960 und danach
       arbeitete sie an der Seite von Lumumba als Protokollchefin und Beraterin.
       Im Strudel der antikolonialen Bewegungen, die auf dem ganzen Kontinent in
       den späten 1950ern an Bedeutung gewannen, knüpfte sie damals Kontakte in
       diverse afrikanische Länder, reiste zwischen Ghana und Algerien hin und
       her. Wie [2][Patrice Lumumba], der Ghanaer Kwame Nkrumah oder Nelson
       Mandela gehört auch Andrée Blouin zur ersten Generation charismatischer und
       selbstbewusster afrikanischer PolitikerInnen.
       
       ## Lichtstrahl der Erkenntnis
       
       Der Buchtitel suggeriert Afrika als Staat und doch steckt in „My Country,
       Africa“ ein Fünkchen Wahrheit, insofern Blouin in den unterschiedlichen
       Unabhängigkeitsbestrebungen Kolonialismus durch Panafrikanismus ersetzen
       will. Es ist auch ihr Verdienst, dass in den 1950er und 1960er Jahren
       überhaupt so etwas wie Schwarze Solidarität auf dem Kontinent entsteht,
       denn sie war eine exzellente Netzwerkerin.
       
       Dabei schildert Blouin ihren Einstieg in den antikolonialen Befreiungskampf
       1958 eher als banales Erweckungserlebnis. Es trug sich in einem Supermarkt
       der guineischen Stadt Siguiri zu: „Hinter der Kasse hing ein Foto von Ahmed
       Sékou Touré und es erschien mir plötzlich, dass sein strenger Blick auf mir
       lastete. Mehr als sein Fotoporträt blickt mich ein Lichtstrahl der
       Erkenntnis an.“ So beginnt das 13. Kapitel „Destiny Calls“ als eine Art
       göttliche Vorsehung, ausgelöst von einem Porträt des Politikers Sékou
       Touré, der 1958 zum ersten Präsidenten Guineas nach der Unabhängigkeit von
       Frankreich gewählt wurde.
       
       Welchem Ausmaß von Gewalt das kolonisierte Individuum in der brutalen
       [3][weißen Herrschaft in Afrika] ausgesetzt war, wie sich Rassismus
       alltäglich in Körper und Geist eingeschrieben hat, zeichnet Blouin in den
       ersten Kapiteln ihrer Autobiografie eindrucksvoll nach. „Eine Sprache
       sprechen, heißt, eine Welt, eine Kultur auf sich nehmen“, hat Frantz Fanon
       in „Schwarze Haut, weiße Masken“ einst postuliert. Sprache,
       Herrschaftsanspruch und gute Sitten waren im frankophonen Afrika aus
       Frankreich importiert. Blouin charakterisiert sich als „métisse“ und ist
       dadurch Misshandlungen von Weißen und Schwarzen ausgesetzt. Ihr Vater, ein
       weißer Franzose, bereiste als Händler die frankophonen Kolonien im Westen
       Afrikas, ihre Mutter, war eine schwarze Teenagerin aus einer Region in der
       heutigen Zentralafrikanischen Republik.
       
       Weil die Beziehung des Paars in der weißen Kolonialgesellschaft als
       unschicklich angesehen wurde und schon gar kein Kind hätte daraus
       resultieren dürfen, wurde Andrée Blouin im Alter von drei Jahren der Mutter
       weggenommen und in ein von Nonnen geführtes Waisenhaus nach Brazzaville
       (heutige Republik Kongo) abgeschoben. Dort war sie brutaler psychischer und
       physischer Gewalt ausgesetzt, konnte nur durch eisernen Willen,
       Bildungshunger und ihr rebellisches Wesen überleben und schließlich türmen.
       Die Konflikte mit dem Elternhaus sind Teil ihrer Erzählung, sie mehren die
       Wut von Blouin, helfen ihr aber auch beim frühen Erwachsenwerden.
       
       Frappierend an „My Country, Africa“ ist in diesen ersten Kapiteln die
       Gleichzeitigkeit von Industrialisierung und dem rassistischen Unrecht, das
       mit der Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskraft einhergeht. Wie
       Andrée Blouin als Teenagerin die Zusammenhänge in der kolonialen
       Gesellschaft bewusst werden, wird durch die retrospektiven Schilderungen
       jener Jahre nicht verklärt, sondern wie ein Dominospiel aufgebaut, das dann
       Stein um Stein umfliegt. Eine dramaturgische Raffinesse, besonders, wenn
       man bedenkt, dass Blouin – als sie mit der Niederschrift ihrer Memoiren in
       den 1970er Jahren begann – aus dem algerischen Exil 1973 nach Paris
       migriert war, wo sie 1986 desillusioniert und von vielen afrikanischen und
       europäischen FreundInnen entfremdet, weitgehend in Vergessenheit geraten
       starb.
       
       ## Sicherheitsabstand zu den Kreml-Leuten
       
       Anders als es im [4][Dokumentarfilm „Soundtrack für einen Staatsstreich“
       retrospektiv schönfärberisch dargestellt wird], nutzte die Sowjetunion
       unter Nikita Chruschtschow die revolutionären Befreiungskämpfe in Afrika
       Anfang der 1960er, um in der Hochphase des Kalten Krieges von eigenen
       imperialen Absichten abzulenken. Obwohl Andrée Blouin damals von belgischen
       und französischen Journalisten als „sowjetische Agentin“, „Schwarze
       Pasionaria“ und „Politbüroschlampe“ verunglimpft wurde, schreibt sie in
       ihrer Autobiografie explizit, wie sie die sowjetischen Machtkalküle –
       „their particular brand of imperialism“, wie sie es nennt – durchschaut und
       daher zeitlebens Sicherheitsabstand zum Kreml und seinen Gesandten in
       Afrika hält.
       
       Ihr Buch ist ein berührendes Zeugnis von politischer Radikalisierung,
       Unabhängigkeit und dem gekonnten Einsatz von Sprache als Waffe in den
       Händen einer furchtlosen Aktivistin. Als Frau in der
       Staatenlenker-Männerwelt der 1960er ist ihre Biografie singulär – auch
       literarisch, da ihr Schreiben vollständig ohne gefühlige Folklore und
       dumpfe Afrikaklischees auskommt.
       
       30 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.arte.tv/de/videos/109338-000-A/soundtrack-fuer-einen-staatsstreich/
   DIR [2] /Essayfilm-von-Johan-Grimonprez/!6063762
   DIR [3] /Autobiografie-von-Maryse-Conde/!5695262
   DIR [4] /Essayfilm-von-Johan-Grimonprez/!6063762
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
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