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       # taz.de -- Short Stories in Deutschland: Splitter im Erzählen
       
       > Die gut gemachte Kurzgeschichte: Warum nur tritt sie hierzulande im
       > Gegensatz etwa zu den USA außerhalb von Wettbewerben so selten ins
       > Rampenlicht?
       
   IMG Bild: In der absoluten Verkürzung liegt eher eine schriftstellerische Herausforderung statt Trivialität
       
       Leider liebt man in Deutschland die Kurzgeschichte nicht. In der Gunst der
       Leser*innen rangiert sie noch hinter der Novelle und dem Gedicht. Sie
       taugt nicht als eskapistische Strandlektüre (zu kurz!), aber auch nicht als
       ernsthafte, den Weltgeist beschwörende Literatur (zu belanglos!) und schon
       gar nicht als die Wirklichkeit transzendierendes Kunstwerk (zu einfach!).
       Man hält sich an [1][Cormac McCarthy,] der behauptete, es lohne nicht,
       etwas zu schreiben, das einen nicht mindestens zwei Jahre Lebenszeit koste
       und in den Selbstmord treibe.
       
       Es sind allerdings nicht nur die Leser*innen (und Verlage), die sich vor
       der kurzen Form zieren. Auch die Autor*innen müssen sich dem Markt fügen
       und verwehren sich der kurzen Form, so scheint es, vor allem wenn sie am
       Beginn ihrer literarischen Karriere stehen. Wer im Literaturbetrieb Fuß
       fassen will, tut gut daran, zumindest eine Romanidee in der Schublade zu
       haben. Dabei verlangen die meisten deutschen Literaturwettbewerbe und
       Magazine schon aus praktischen Gründen in ihren Ausschreibungen nach kurzen
       Texten.
       
       Wer aber Open Mike und Co gewinnt, der verschwindet nicht selten für ein,
       zwei Jahre von der literarischen Bildfläche, um, mit einem Buchvertrag
       ausgestattet, seine literarischen Meriten schließlich doch mit einem
       Debütroman unter Beweis zu stellen. Der prämierte Wettbewerbstext taucht
       dann höchstens noch als Kapitel auf oder verschwindet gleich ganz in der
       Preisanthologie.
       
       Anders ist es traditionell in den USA, wo die „American Short Story“ mit
       ihrer erzählerischen Zugänglichkeit einen ungleich höheren Stellenwert
       genießt. In dieser Tradition, begründet von den Autoren der Lost Generation
       um Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald und später von Donald
       Barthelme, [2][Alice Munro] und zuletzt George Saunders weitergeführt, ist
       die Kurzgeschichte eine splitterhafte Abbildung der Realität – eine Suche
       nach dem Universellen in der radikalen Subjektivität der amerikanischen
       Erfahrung.
       
       ## Das radikal Subjektive
       
       Sie schöpft ihre Kraft aus den unzähligen sich überlagernden Erzählsträngen
       des amerikanischen Alltags, bietet das radikal Subjektive ohne hermetisch
       zu sein – denn die Verständlichkeit und das Identifikationspotenzial ist
       über den literarischen Realismus immer gegeben. Vor allem in Saunders’
       Geschichten, zuletzt auf Deutsch erschienen bei Luchterhand unter dem Titel
       „Tag der Befreiung“, spiegelt sich eine außergewöhnliche Polyphonie.
       
       Sie beinhalten Walt Whitmans Multitudes genauso wie die Auswüchse moderner
       Chat-Sprache. Diese Geschichten beweisen auch, dass McCarthy mit seiner
       Geringschätzung falsch lag, denn klar ist: Hier wurde ebenso hart und
       akribisch gearbeitet wie an einem Roman. In Wirklichkeit liegt in der
       absoluten Verkürzung eben eher eine schriftstellerische Herausforderung
       statt Trivialität.
       
       Und auch der amerikanische Literaturbetrieb mit Institutionen wie dem Iowas
       Writers’ Workshop (der das Handwerkliche, Geniefreie des Schreibens schon
       im Namen trägt) und Magazinen wie Granta, dem New Yorker oder dem
       One-Story-Magazin bildet diese Offenheit für längere, narrative
       Kurzgeschichen ab.
       
       Eine Veröffentlichung im New Yorker heißt nicht: Nun bist du bereit für den
       nächsten „Great American Novel“, sondern: Diese Kurzgeschichte ist gut
       genug, um für sich zu stehen, dieser Splitter ist die Gesamtheit der
       Literatur an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und jagt in
       aller Subjektivität doch einem universellen Verständnis nach, wie es sich
       anfühlt, genau jetzt Amerikaner*in zu sein.
       
       ## Diskursbildend außerhalb des Literaturbetriebs
       
       Dabei demonstrieren vor allem Kurzgeschichten immer wieder, dass sie auch
       in der Gegenwart das Zeug haben, außerhalb des Literaturbetriebs
       diskursbildend zu wirken. Als Kristen Roupenians Story „Cat Person“ 2017 im
       New Yorker erschien und über Nacht weltweit viral ging, war es Literatur,
       die plötzlich einen Spaltkeil in patriarchale Strukturen der misogynen
       Mehrheitsgesellschaft trieb, und es war eine klassisch erzählte
       Kurzgeschichte, die zu einem zentralen Text der MeToo-Bewegung wurde, deren
       kanonische Schlüsseltexte ansonsten vor allem in nonfiktionalen oder
       zumindest hybriden Textgattungen zu finden sind.
       
       Als George Saunders 2013 [3][seinen Erzählband „Tenth of December“]
       veröffentlichte, hatte das einen Hype zur Folge, der im Post-Corona
       Zeitalter vielleicht nur mit der Veröffentlichung einer neuen TV-Serie zu
       vergleichen ist.
       
       Zuletzt konnte man im Ansatz Vergleichbares bei Zach Williams erleben, der
       mit seinem von Kritikerinnen, Lesern und Barack Obama gefeierten Erzählband
       [4][„Es werden schöne Tage kommen“] gezeigt hat, welche Wirkung auf den
       Zeitgeist Literatur haben kann, wenn sich Verlage trauen, auch unbekannte
       Autoren mit gut gemachten Kurzgeschichten debütieren zu lassen. Diese teils
       sehr kurzen Geschichten fügen sich in ihrer Splitterhaftigkeit doch zu
       einem vollständigen wie erschütternden Bild Amerikas zusammen.
       
       Erinnert man sich zurück, welche Literaturen hierzulande eine ähnliche
       Wirkmacht aus sich selbst heraus entfalten konnten, einen bereits
       bestehenden Diskurs nicht nur befeuert, sondern begründet haben, ist man
       zwangsläufig wieder bei der Kurzgeschichte. Man muss wohl 20 Jahre
       zurückreisen [5][zur Literatur Judith Hermanns] und des „Fräuleinwunders“.
       Hermanns Sprache und das Raymond-Carver-artige „in medias res“ aus
       „Sommerhaus, später“ stellte tradierte Formen von weiblicher
       Autorinnenschaft infrage, beeinflusste eine ganze Generation in Form und
       Sprache und schlug auch Wellen außerhalb des Literaturbetriebs.
       
       ## Zwei Formen der deutschsprachigen Kurzgeschichte
       
       Blickt man heute auf die Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum, haben
       sich vielleicht zwei Formen entwickelt: Die eine, eher kurz und sprachlich
       experimentell, versucht sich der Wirklichkeit über ihre äußere Form zu
       nähern, bedient sich kaum tradierter Erzähldramaturgien, sondern setzt voll
       auf stilistische Idiosynkrasien und Hermetik.
       
       Diese Geschichten kapitulieren zwar nicht vor der Zunahme der Zeichen,
       versuchen dem Chaos der Postmoderne aber nicht durch Ordnendes, Klärendes
       beizukommen, sondern funktionieren als ein Gesang auf die Unbegreiflichkeit
       des Jetzt. Vor allem der Open Mike, aber auch Literaturmagazine wie Edit
       und Bella triste bilden diese Sprachexperimente ab. Viele junge
       Autor*innen finden hier zu ihrer Stimme und in den Literaturbetrieb.
       
       Doch die eher längere und zugänglichere Kurzgeschichte erlebt zuletzt neue
       Aufmerksamkeit. Neben dem renommierten Walter-Serner-Preis, der vom RBB
       veranstaltet wird, gibt es seit Kurzem auch den sogar noch besser dotierten
       Boccaccio.cc-Preis, der unter anderem vom Volltext-Magazin ausgeschrieben
       wird.
       
       Und auch beim Open Mike [6][gewann im letzten Jahr mit Eser Aktays
       „Segensmahl“ der praktisch einzige Text, der einer konventionellen
       Dramaturgie folgte] und der sich in seiner Mehrsprachigkeit auf beinahe
       Saunders’sche Weise einer Polyphonie annäherte – ohne aus den Augen zu
       verlieren, eine mit dem Jetzt in Beziehung stehende Geschichte zu erzählen.
       
       ## Seriell erscheinende Kurzgeschichten
       
       Seit 2021 erscheint zudem mit Das Gramm ein Literaturmagazin, das sich ganz
       dezidiert dieser stiefmütterlich behandelten Form widmet. Nach Vorbild des
       One-Story-Magazins erscheint alle zwei Monate genau eine Kurzgeschichte als
       eigenständiges Werk. Diese Wertschätzung der kurzen Form ist Herausgeber
       Patrick Sielemann wichtig, der zugleich auch Lektor im Verlag Kein & Aber
       ist und beide Seiten des Betriebs kennt.
       
       Denn obwohl Das Gramm beweist, dass Kurzgeschichten entgegen ihrem
       zweifelhaften Ruf auch im deutschsprachigen Raum eine Leserschaft finden
       können, haben sie es in Buchform oft schwerer, so Sielemann.
       
       Doch in einer Welt, in der die großen Erzählstränge der politischen
       Zeitgeschichte sich schon anfühlen wie Fiktion und immer neue, bedrohliche
       Wendungen nehmen, erscheint das realistische, splitterhafte Erzählen so
       zeitgemäß wie selten zuvor. Denn wenn Kurzgeschichten gut geschrieben sind,
       dann bedienen sie genau die von Susan Sontag geforderte „Erotik der Kunst“
       und machen eine lehrbuchartige Hermeneutik überflüssig.
       
       Dann tragen sie ihre Geheimnisse auf der Oberfläche, und das Subjektive der
       Handlung tritt hinter einem universellen Gefühl des Menschseins zurück,
       weil es unsere eigenen, verdrängten Geheimnisse sind, die uns in ihrer
       ganzen unerträglichen Nacktheit anstarren.
       
       30 Mar 2025
       
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