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       # taz.de -- Buch über radikalisierte Ältere: Wenn Mama den Familienchat flutet
       
       > Seit der Pandemie wenden sich viele Ältere Verschwörungsideologien zu.
       > Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann geben Tipps für Angehörige.
       
   IMG Bild: Protestierende gegen die Impfpflicht, im Juli 2022 in Berlin. Das große Q ist eine Anspielung auf QAnon
       
       Ein Mann, 41, wendet sich an eine Beratungsstelle. „Meine Mutter war
       eigentlich immer grün. Mit 61 Jahren kam sie in Frührente. Kurz nach
       Rentenbeginn veränderte sich ihre Welt.“ Stunden habe sie in Onlineforen
       verbracht, den Familienchat mit Nachrichten geflutet. Im Laufe der
       Flüchtlingskrise 2015 habe sie zunehmend obskure und menschenverachtende
       Inhalte geteilt. „Ich muss nicht sagen, was während Corona mit ihr
       passierte. Sie hat sich endgültig radikalisiert.“ Diskussionen nützten
       nichts. „Wie kann ein Mensch sich nur so ändern?“
       
       Ein Beispiel von vielen, die im Buch „Abgetaucht, radikalisiert, verloren?
       Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen“ beschrieben werden. Die
       Autorinnen und Pädagoginnen Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann nehmen darin
       ein relativ neues Phänomen in den Blick. Lange verband man politische
       Radikalisierung vor allem mit jungen Menschen. Mit der Pandemie hat sich
       das verändert, viele Ältere entwickelten ein tiefes [1][Misstrauen gegen
       den Staat]. Beratungsstellen für Verschwörungsideologien berichten, dass
       sie vermehrt Anfragen von Jüngeren bekommen, die sich Sorgen machen um ihre
       Eltern.
       
       Was sind die Ursachen für die Radikalisierung jenseits der Lebensmitte?
       Sarah Pohl leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in
       Baden-Württemberg, Erfahrungen der Berater*innen fließen in das Buch
       ein. Den theoretischen Teil kann man getrost überblättern. Spannend sind
       vor allem die mehr als 20 anonymisierten Fallbeispiele.
       
       Da ist der 76-Jährige, der sich mit alternativer Medizin beschäftigt und
       zunehmend eine pharmakritische, staatsferne Haltung entwickelt. Der Witwer,
       der am Stammtisch über Ausländer zu schimpfen beginnt und in Chatgruppen
       Halt und Gleichgesinnte findet. Die 68-Jährige, die nach Paraguay
       auswandert, sich einer Gruppe anschließt und nach Konflikten wieder nach
       Deutschland zurückkehrt.
       
       Jeder Fall ist anders, und doch werden Muster erkennbar. Krisen und Brüche
       begünstigen eine Radikalisierung offenbar. Der Eintritt ins Rentenalter
       kann zu Selbstzweifeln führen, der Tod der Partner*in zu Isolation.
       Verschwörungserzählungen verleihen dem Leben dann einen scheinbar neuen
       Sinn und schaffen Zugehörigkeit. Gesundheitsthemen werden im Alter
       wichtiger, auch Alternativmedizin und Esoterik können ein Einstieg sein ins
       Verschwörungsdenken. Rentner*innen haben zudem schlicht viel Zeit, um
       [2][sich im Netz zu verlieren], fehlende Medienkompetenz kann das Problem
       verstärken.
       
       Pohl und Wiedemann betrachten die Radikalisierung Älterer als Teil eines
       biografischen Puzzles. Darauf, welche gesellschaftlichen Ursachen dazu
       geführt haben, dass so viele während der Coronazeit Vertrauen in Staat und
       Medien verloren haben, gehen die Autorinnen nicht weiter ein. Der Band ist
       vor allem ein Ratgeber für betroffene Angehörige.
       
       Was also können betroffene Töchter und Söhne tun? Pohl und Wiedemann
       betonen, wie wichtig es ist, auf die eigenen Grenzen zu achten. Sie geben
       Tipps zur Gesprächsführung. Inhaltliche Diskussionen bringen häufig nichts,
       so ihre Erfahrung. Die Autorinnen empfehlen, den Kontakt zu halten und nach
       anderen Möglichkeiten zu suchen, um Sinn und Zugehörigkeit zu schaffen.
       Hobbys können helfen, gärtnern, reisen. Oder ein Haustier: Wer mit dem Hund
       Gassi geht, hat weniger Zeit fürs Netz. So banal das klingen mag, es
       leuchtet ein. Werden andere Themen wichtiger, bleibt für die
       [3][Verschwörungsideologie] weniger Raum. Eine „Heilung“ ist das nicht,
       aber ein Fortschritt.
       
       Die Autorinnen machen auch auf fehlende Beratungsangebote für Ältere
       aufmerksam. Fraglich ist allerdings, wie diese die Menschen überhaupt
       erreichen könnten. Bei der Suche nach Lösungen fehlt im Buch dann doch die
       Ebene der gesellschaftlichen Analyse: Eine ernsthafte Aufarbeitung der
       Coronapolitik könnte möglicherweise mehr bewirken als die Einrichtung
       einzelner Beratungsstellen.
       
       Auch die Situation der Mutter des eingangs zitierten 41-Jährigen veränderte
       sich mit der Zeit. Sie bekam Probleme mit der Lunge. In der Reha gab es
       viele Freizeitangebote und schlechten Empfang, so schildert es der Sohn.
       „Dadurch, habe ich den Eindruck, ist sie wieder etwas zurückgekommen.“
       
       24 Mar 2025
       
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