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       # taz.de -- Wie wir wieder zusammen kommen: Wir sehen uns im Abteil!
       
       > Die Demokratie retten und die Einsamkeit bekämpfen? Beides wird nur
       > gelingen, wenn der öffentliche Raum aktiv für soziales Miteinander
       > gestaltet wird.
       
   IMG Bild: Im Großraumwagen: anonym und doch zu nah
       
       Dass dem sozialen Zusammenhalt der Zusammenbruch droht, ist ein Thema
       unserer Zeit. In den jüngsten Ausgaben der Zeitschrift [1][Aus Politik und
       Zeitgeschichte] wurden Themen wie „Demokratie jenseits von Wahlen“
       (42/2024) und „Einsamkeit“ (52/2024) thematisiert.
       
       Es stellt sich heraus, dass diese Themen große Überschneidungen aufweisen,
       denn ein Grund für die zunehmend wahrgenommene Einsamkeit ist, dass immer
       mehr „Begegnungsorte“ verschwinden. Einsamkeit begünstigt auch politischen
       Rückzug und sogar Radikalisierung.
       
       In den Texten werden gut gestaltete öffentliche Räume gefordert, für
       zufällige Begegnung sowie für Dienstleistungen, die echte Menschen in
       Interaktion bringen.
       
       Die Neurobiologin Nicole Strüber identifiziert in ihrem Buch [2][„Unser
       soziales Gehirn“] Automatisierung, Effizienzbestrebungen und digitalisierte
       Kommunikation als Treiber eines Verlusts von „Miteinander“. Termine werden
       über Apps vergeben, Formulare online eingereicht, Verabredungen in Textform
       gemacht. Sozialer Austausch ums Nötigste herum wird weggekürzt, und wir
       fühlen uns leer.
       
       ## Unterversorgung mit Zusammensein
       
       Strüber erklärt nachvollziehbar, dass wir nicht nur aus sozialer oder
       politischer Sicht an diesem Miteinander interessiert sein sollten, sondern
       aus neurobiologischer Perspektive sein müssen. Denn unser Gehirn und
       Nervensystem sind biologisch darauf ausgelegt – eine Unterversorgung mit
       Zusammensein und Berührung bringt unsere Biochemie aus der Balance. Bei
       Ärzten gibt es viel guten Willen, aber immer weniger Möglichkeiten. Bei
       Unternehmen aber steht die Neurobiochemie ihrer Kunden schon mal gar nicht
       an erster Stelle, wenn sie denn nichts einbringt.
       
       Wenn die Biochemie aus dem Gleichgewicht ist, bilden sich Zustände von
       Einsamkeit und erhöhtem, weil nicht abgebautem Stress. Diese wiederum sind
       laut Demokratieforschung Faktoren für das Entstehen von Abgrenzung,
       Aggression und politischer Radikalisierung. So wird zwischen ungewollter
       Einsamkeit und Demokratieverfall ein Zusammenhang hergestellt. Damit wären
       wir beim medialen Thema Nummer eins: „Demokratie leben“ oder zumindest
       erhalten.
       
       Ein [3][Programm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
       Jugend] versucht das vor allem, indem es zivilgesellschaftliche Strukturen
       stärkt. Das Programm fördert Projekte, die vorrangig beraten und bilden. Es
       werden Debatten weitergeführt, Themen gesetzt und bearbeitet und mit
       Freiwilligen Demokratie-Cafés durchgeführt.
       
       Bei diesem Zuschnitt ist allerdings die Gefahr, dass sie vor allem solche
       Menschen einbinden, die ohnehin nicht einsam, sondern bereits aktiviert
       sind. Es steht auch zu befürchten, dass solche Projekte Automatisierung und
       Kommunikationstechnologien nicht neu gestalten oder Effizienzgebote
       abschaffen. Dafür müssten sie ja in wirtschaftliche und andere
       Versorgungsstrukturen eingreifen, an den Strukturen des Nichtmiteinanders
       ansetzen. Doch das können sie nicht.
       
       ## Wie freiwilliges Mülleinsammeln
       
       Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen Zuhörbänke anbieten, bei denen
       freiwillig Engagierte Menschen mit Redebedarf zuhören, ist das ein bisschen
       so, wie wenn ein paar Leute sich freiwillig zum Mülleinsammeln melden: Es
       werden die Konsequenzen eines Systems korrigiert, das aber nicht verändert
       wird und nun mal so gestaltet ist, dass es eben diesen Müll produziert,
       dass Menschen diesen Müll hinterlassen. Neurobiologin Strüber liefert gute
       Hinweise darauf, wo die Reise hingehen muss – mit ziemlich großen
       politischen Konsequenzen auf den zweiten Blick.
       
       Gruppen tendieren dazu, sich über die Zeit hinweg miteinander zu
       solidarisieren und andere Gruppen tendenziell abzuwerten. Wir müssen also
       Gruppen aufbrechen und durchmischen, schon in der Schule!
       
       Kinder brauchen echte Aufmerksamkeit, emotionale Unterstützung und
       körperliche Nähe in Betreuung? Also dann: Sorgearbeit in Kitas aufwerten,
       besser bezahlen und mehr Zeit geben und statt ängstlicher Distanz
       körperliche Nähe erlauben!
       
       Patienten heilen vor allem dann, wenn Ärzte ihnen Aufmerksamkeit schenken
       und Vertrauen hergestellt werden kann? Abrechnungsstrukturen neu gestalten,
       sodass das beste Placebo von allen – Zuhören und Vertrauen schaffen –
       endlich auch als Leistung anerkannt wird! In allen Feldern geht es im Kern
       darum, dass Menschen endlich genug Zeit in Kopräsenz mit Menschen bekommen,
       um eben den Sachzweck der Beziehung mit den biochemischen Anforderungen des
       Gehirns an eine sichere, gute, einbindende und motivierende Interaktion zu
       verbinden.
       
       ## Und nun zum Zug!
       
       Dafür müssen wir vor allem auf den Alltag schauen, statt Zusammenhalt immer
       mehr über politische Diskurskultur zu definieren. Zum gelungenen Gespräch
       gehört nämlich der geschützte Raum für Nähe, die Chance, Gehirnaktivität zu
       synchronisieren über den Verlauf einer positiven Interaktion. Hierfür
       reicht es aber nicht, zufällig auf dem gleichen öffentlichen Platz zu
       sitzen oder an der Kasse einen guten Tag zu wünschen. Für soziale Orte
       braucht es mehr Investition in gutes Design, gute Infrastruktur. Denn
       tragen wir dem Verständnis des sozialen Gehirns Rechnung, braucht es eben
       doch ein bisschen mehr Rahmung für Nähe und Inhalt. Unsere gebaute Umwelt
       beeinflusst, wie wir uns verhalten, wie wir uns fühlen, was naheliegt, was
       möglich ist.
       
       Nehmen wir das soziotechnische System Fernreisezug. Menschen auf Reisen –
       eigentlich eine Steilvorlage für interessante Interaktionen mit Fremden,
       denn man hat ja bereits eine Gemeinsamkeit. Doch beim Gedanken an die
       vergangenen Zugfahrten werden vielen Menschen eher nervige Mitreisende
       einfallen oder bei Verspätung, Zugausfall und anderen Missgeschicken
       ausgetauschte Unmutsbekundungen. Tiefere Gespräche mögen an Tischplätzen
       stattgefunden haben. Doch im Großen und Ganzen hat hier genau das
       Effizienzgebot – alles mit dem geringsten Einsatz von Ressourcen schaffen –
       verbunden mit einem besonders ungemütlichen Modell von „Modernität“ die
       soziale Qualität des Miteinanderreisens vermindert.
       
       Die Deutsche Bahn hat die noch in Abteilwagen organisierten Intercity- und
       Eurocityzüge Anfang der 2000-er in Großraumwagen umgebaut und das System
       Abteilwagen damit quasi abgeschafft. In der Fachzeitschrift Signal wurde
       2003 kommentiert: „Ein wichtiger Systemvorteil der Bahn, nämlich den
       Reisenden erheblich mehr Komfort als im Flugzeug oder Bus zu bieten, wird
       damit auch im vorliegenden Fall wieder ein Stück demontiert. Die Deutsche
       Bahn AG begründete den Umbau mit ‚modernem und zeitgemäßem Design‘. War die
       bisherige Form der Innenraumgestaltung etwa veraltet und unzeitgemäß? Ist
       wenig Beinfreiheit modern und zeitgemäß?“
       
       Ganz offensichtlich hatte die Bahn die Entscheidung für den Großraumwagen
       inhaltlich nicht nachvollziehbar begründet. Wie hätte sie auch? Soziale und
       psychologische, sogar neurobiologische Aspekte des menschlichen
       Miteinanders spielen im Design von Infrastrukturen, obwohl fast alle
       Menschen sie nutzen (müssen), keine Rolle. Stattdessen orientieren sich
       Designer (häufig männlich) an aktuellen Materialien aus IT und
       Unterhaltungselektronik und an industrieller Rationalität.
       
       ## Das Abteil wirkt anders
       
       [4][Der Großraumwagen] vollbringt es, zugleich zu anonymisieren – zu viele
       fremde Menschen auf einmal – und Masse herzustellen. Irgendwo unterhalten
       sich seit einer Stunde zwei Kollegen über Politik, man denkt laufend mit
       und ist doch ausgeschlossen. Hinter einem geht alle paar Minuten eine
       Nachricht auf dem Handy ein, nerv! Von „Kannst du mich hören?“ bis hin zu
       lautem Schnarchen sind uns die Menschen zu nah, ohne uns verbunden zu sein.
       
       Wir hören das Gespräch von Menschen, die wir nicht sehen können, sind
       genervt von Gerüchen, deren Verursacher wir nicht erkennen. Augenkontakt,
       der durch meine Reaktion das Verhalten von Mitmenschen schnell und wortlos
       regulieren kann, wird erschwert. Die Kontaktaufnahme gleicht in etwa dem
       Ansprechen von Fremden auf der Straße: Was will der denn jetzt? Fehlende
       Privatsphäre trotz Abschottung – eine unangenehme Kombination und eine
       verpasste Chance.
       
       Das Abteil wirkt anders. Dass es einen Interaktionsraum schafft, zeigt sich
       im Moment des Betretens: Die Anwesenheit der anderen wird anerkannt,
       zumeist durch ein Grüßen und gemeinsames Sortieren der Sitzordnung. Das
       eigene Verhalten wird (meistens) der Nähe zu den anderen angepasst, da
       direkter Augenkontakt besteht und wechselseitige Reaktionen möglich sind.
       Das geteilte Fenster führt zu geteilter Aufmerksamkeit, zu geteilten
       Beobachtungen, oh, da, Rehe auf dem Feld! Gleich fängt es an zu regnen.
       
       Das Mithören der Gespräche Fremder lässt eine volle Beobachtung zu, die uns
       einen neugierigen Einblick ermöglicht. Wenn jemand einen Witz macht, ist es
       angemessen, rüberzuschauen und mitzulachen, denn man ist mit dabei. Wenn
       Gespräche zwischen Fremden entstehen, kommt dabei durch den gemeinsamen
       Raum ein temporäres Wir-Gefühl zustande.
       
       ## Kooperative Grundstimmung
       
       Das Abteil begünstigt eine kooperative Grundstimmung und ein
       Aufeinandereinstellen. Was nichts anderes ist als die Herstellung von
       Synchronizität, die unser soziales Gehirn sich wünscht, um sich sicher,
       wohl und eingebunden zu fühlen.
       
       Ein Abteil macht noch keine Demokratie? Man weiß es nicht, weil es gar
       nicht systematisch betrachtet wurde. Weil es die Entscheidungsträger nicht
       interessierte, weil sie sich für den effizienten Transport von Kunden
       zuständig fühlen und nicht für die Demokratie oder die Gesellschaft. Und
       das reicht nicht.
       
       Stellen wir uns vor, dass unser Bedürfnis nach einer Chance auf gute
       Verbindung endlich das entscheidende Designmerkmal von Infrastrukturen
       würde, in denen wir uns gemeinsam bewegen müssen. Wir bräuchten
       wahrscheinlich nicht ständig darüber reden, dass Leute mehr miteinander
       reden sollten! Oder sonst wie in aufwendigen sozialen „Müllsammelaktionen“
       die Konsequenzen und Symptome einer unsozialen Gestaltung unseres
       Miteinanders bekämpfen. Die Betrachtung der sozialen Qualität von Prozessen
       braucht endlich den ihr gebührenden Platz: ganz oben auf der
       Prioritätenliste und am Anfang des Gestaltungsprozesses.
       
       3 Apr 2025
       
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