URI: 
       # taz.de -- Als Gorbatschow Generalsekretär wurde: Die Chance auf Freiheit existiert
       
       > Menschen brauchen die ganze Wahrheit. Michail Gorbatschow lieferte den
       > Russen diese in einer Rede 1991. Damals dachte man, die Wende sei
       > vollzogen.
       
   IMG Bild: Da war er noch beliebt: der Reformer Michaeil Gorbatschow nach seiner Wahl zum sowjetischen Staatschef 1985
       
       Vor vierzig Jahren traf das Plenum des ZK der KPdSU eine schicksalhafte
       Entscheidung.
       
       Zu diesem Zeitpunkt war die Sowjetunion immer tiefer in eine
       wirtschaftliche und strukturelle Krise geraten. Nach der stagnierenden
       Breschnew-Ära begannen [1][die sowjetischen Führer, einer nach dem anderen
       zu sterben]. Meine Tochter freute sich schon, wenn früh morgens die
       Trauermusik im Radio ertönte. Es kündigte den Tod des nächsten
       Generalsekretärs an und bedeutete schulfrei.
       
       Der nach dem Tod Breschnews 1982 zum Generalsekretär gewählte Andropow,
       allmächtiger Leiter der Staatssicherheit, wollte Ordnung im Geiste einer
       neostalinistischen Effizienz schaffen. Wer die Schule schwänzte, den ließ
       er tagsüber in Kinos, Parks oder Bädern aufgreifen. Zu dieser Zeit hatten
       die sowjetischen Bürger bei der Arbeit zu sein.
       
       Doch wie auch das sowjetische System, war Andropow bereits hoffnungslos
       krank, er übte nicht mal anderthalb Jahre die Macht aus. Auf ihn folgte ein
       ganz realer Kandidat für das Jenseits, der alte Apparatschik Tschernenko.
       Er amtierte ein einziges Jahr.
       
       ## Mit Gorbatschow verband sich die Hoffnung auf Reform
       
       Da hieß es schon länger, dass es im Politbüro nur eine Figur gab, mit der
       sich die Hoffnung auf mögliche Reformen verband, Michail Gorbatschow. Er
       war energisch und wesentlich jünger. Durch glückliche Umstände wurde er am
       11. März 1985 zum Generalsekretär des ZK gewählt. Nur drei Jahre später
       würde dies zum Fall der Berliner Mauer führen. Und 1991 zerfiel dann
       schließlich das ganze sowjetische Imperium.
       
       Doch vor den Reformen wurden zunächst gravierende Fehler gemacht. Die
       Anti-Alkohol-Kampagne war sinnlos und brachte das Volk gegen Gorbatschow
       auf. Im April 1986 ereignete sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
       Sie deckte die Hilflosigkeit und die Lügen des staatlichen Systems erneut
       sehr drastisch auf.
       
       1986 hat Gorbatschow ein Wort ausgesprochen, das seinen Reformen und dieser
       Zeit den Namen geben würde: Perestroika. Er sagte, dass Menschen „die ganze
       Wahrheit brauchen“. Es war der Stein, der eine Lawine auslöste, die ein
       ganzes Lügensystem schließlich zum Einsturz brachte.
       
       In den letzten Jahren unter Gorbatschow glaubte ich, er zögere mit den
       Reformen, weil er zwischen zwei Stühlen saß. Er wollte sie und konnte sich
       dennoch nicht konsequent genug von den Illusionen seiner parteilichen
       Identität trennen. Das führte schließlich zu seinem Machtverlust.
       
       ## Verzerrtes Bild
       
       In den von den Putin-Ideologen herausgegebenen Geschichtsbüchern wird das
       Bild von Gorbatschow in düsterem Licht dargestellt. Ihm wird vorgeworfen,
       im Interesse des kollektiven Westens gehandelt zu haben. Dass durch ihn in
       Osteuropa die sogenannten „Samtenen Revolutionen“ und die „Annexion der DDR
       durch die BRD“ stattfanden. Als Gorbatschow der Friedensnobelpreis
       verliehen wurde, sei „die Reaktion in der UdSSR feindselig kühl“ und
       ablehnend gewesen.
       
       Tatsächlich haben viele in Russland heute eine Abneigung gegen Gorbatschow.
       Unbeliebtheit, das ist oft das Schicksal von Reformern. Aber in der letzten
       Rede 1991 vor seinem Rücktritt als Präsident der UdSSR sagte er deutlich
       die Wahrheit. Er erklärte, wie in nur sechs Jahren seiner Amtszeit das
       totalitäre System abgeschafft, der Kalte Krieg beendet, Wettrüsten und
       Militarisierung des Landes gestoppt wurden. Man öffnete sich der Welt,
       lehnte [2][die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder]
       ab, die Nutzung von Truppen außerhalb des Landes.
       
       Damals dachten auch wir, dass die Wende vollzogen sei, es keinen Weg zurück
       gab. Heute ist von all dem nichts übrig geblieben. Im Sommer 2022 wurde
       Gorbatschow beerdigt.
       
       Aktuell glauben nun viele, dass Russland zur ewigen Unfreiheit verurteilt
       sei. Doch es hatte eine zweite Chance. Und es wird eine weitere bekommen.
       
       1 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Unendliche-Geschichte/!6070214
   DIR [2] /Irina-Scherbakowa-ueber-Exil-und-Flucht/!6039574
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Irina Scherbakowa
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Russland
   DIR Memorial
   DIR Wladimir Putin
   DIR Kolumne Unendliche Geschichte
   DIR Social-Auswahl
   DIR Stalin
   DIR Belarus
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Unendliche Geschichte: Ist Stalin gestern gestorben?
       
       Am 5. März 1953 wurde der Tod von Josef Stalin publik. Gestorben schien der
       sowjetische Diktator erst 1989. Zuletzt geistert er wieder durch Russland.
       
   DIR Buch über Wehrmachtsverbrechen: Und die Erde fing Feuer
       
       In den 1970ern protokollierten drei Autoren Wehrmachtsverbrechen im
       heutigen Belarus. Ihre mit Prosa garnierten Berichte sind nun auf Deutsch
       erschienen.
       
   DIR Irina Scherbakowa über Exil und Flucht: „Ich vermisse Russland nicht“
       
       Putin, die Ukraine und der Westen. Kulturwissenschaftlerin Scherbakowa über
       den Kampf um Demokratie, Solidarität und das Werk der Osteuropa-Expertin
       Anne Applebaum.