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       # taz.de -- Serhij Zhadan über seinen Erzählband: „Der Krieg bricht die Sprache“
       
       > Serhij Zhadan ist seit einem Jahr in der ukrainischen Armee und hat neue
       > Erzählungen veröffentlicht. Hier spricht er über das Schreiben im Krieg.
       
   IMG Bild: Serhiy Zhadan, ukrainischer Dichter, Rockstar und jetzt Soldat, in der Region Charkiw in der Ukraine am 23. Juli 2024
       
       Der ukrainische Autor [1][Serhij Zhadan] hat ein neues Buch veröffentlicht,
       das so ist wie keines seiner vorherigen Bücher. Der Erzählungsband „Keiner
       wird um etwas bitten“ skizziert den Alltag in der Ukraine nach Beginn des
       russischen Angriffskriegs im Februar 202. Zhadan erzählt von einem Land, in
       dem „das Leben zerbrochen, […] die Zeit zerbrochen“ ist, „sich das Gefühl
       des Atmens verändert“ hat, wie es in einer Short Story heißt. Zhadan hat
       sich selbst den Streitkräften seines Heimatlandes angeschlossen, er ist für
       Kommunikation zuständig und betreibt aus seiner Heimatstadt Charkiw Radio
       Chartija, ein Frontradio. Er hat der taz schriftlich einige Fragen
       beantwortet. 
       
       taz: Serhij Zhadan, Sie sind seit Frühjahr 2024 Mitglied der 13. Brigade
       der ukrainischen Nationalgarde. Wie geht es Ihnen, wie ist Ihre Situation? 
       
       Serhij Zhadan: Die Lage in der Brigade ist stabil – unsere Einheit ist an
       der Verteidigung der Region Charkiw beteiligt. Da viele Soldaten in der
       Brigade aus Charkiw kommen, ist das für sie ein zusätzlicher Ansporn, ihre
       Stadt und ihre Stadtteile zu verteidigen, die quasi unmittelbar hinter den
       Schützengräben liegen. Die Brigade soll jetzt umstrukturiert werden – in
       naher Zukunft wird ein ganzes Corps der Nationalgarde nach den Erfahrungen
       unserer Brigade aufgebaut. Für uns bedeutet das eine neue Herausforderung,
       neue Aufgaben, neue Arbeit. Wir wollen eine völlig neue Einheit aufbauen,
       die sich vollkommen von den Prinzipien der Sowjetarmee löst und sich an den
       Prinzipien der Nato ausrichtet.
       
       taz: Wie ist Ihre bisherige Zeit beim Militär verlaufen? 
       
       Zhadan: Nach der Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz habe ich zwei Monate
       lang in einem Unterstützungsbataillon gedient. Dann wurde ich in die
       Abteilung für zivil-militärische Kommunikation versetzt. Dort bin ich
       derzeit tätig. Unser Team leistet Kommunikations- und Medienarbeit sowohl
       innerhalb der Brigade als auch außerhalb, im nichtmilitärischen Bereich.
       Wir schlagen kommunikative Brücken zwischen der Armee und dem Hinterland
       und versuchen, die Soldaten der Brigade mit allem zu versorgen, was sie
       brauchen – angefangen von der technischen Ausrüstung bis zur moralischen
       und psychologischen Unterstützung. Wir sind eine innovative Brigade und
       verfügen über eine fortschrittliche, gut ausgebildete Führung. Wir sind
       fest davon überzeugt, dass man eine völlig andere Armee aufbauen kann, eine
       Armee, in der Raum ist für Führung, Selbstverwirklichung und gegenseitigen
       Respekt. Und vor allem, in der das Leben jedes einzelnen Soldaten den
       größten Wert darstellt.
       
       taz: Europa und die USA sind dabei, als westliche Einheit zu zerfallen. Wie
       viel Sorge macht Ihnen die veränderte geopolitische Situation? 
       
       Zhadan: Ich persönlich habe eigentlich immer in erster Linie auf die
       Ukrainer gehofft. Unsere Freiheit und unsere Zukunft sind zunächst einmal
       vor allem für uns selbst wichtig, so viel steht fest. Natürlich rechnen wir
       weiterhin mit unseren Verbündeten, vor allem mit den europäischen, aber es
       ist unser Land, und niemand muss uns davon überzeugen, dass wir für unser
       Land einstehen müssen.
       
       taz: Ihre Prioritäten haben sich während Ihrer Zeit bei der Brigade völlig
       verschoben, sagten Sie vor einigen Monaten in einem Interview. Wie
       bedeutend ist es für Sie, Geschichten wie die in Ihrem neuen Buch „Niemand
       wird um etwas bitten“ zu schreiben? 
       
       Zhadan: Für mich war es wichtig, diese Erfahrung festzuhalten – die
       Erfahrung des ersten Kriegsjahrs. Für mich geht es in diesem Buch um die
       Geschichten und Stimmen, deren Zeuge ich geworden bin, die ich persönlich
       gehört habe. Es sind Geschichten über den Raum zwischen Krieg und zivilem
       Leben, über das Leben in den ukrainischen Städten in Frontnähe. Ich wollte
       diesen Grenzraum zwischen Leben und Tod, zwischen Verzweiflung und
       Hoffnung, zwischen Liebe und Hass einfangen.
       
       taz: Was hat sich in Ihrem Schreiben verändert, ist es momenthafter,
       deskriptiver geworden? 
       
       Zhadan: Alles hat sich verändert – der Ton, der Stil, die Figuren, der
       Rhythmus. Der Krieg bricht die Sprache. Er vereinfacht sie, macht sie
       farblos. Das ist ein schwieriger psychologischer Prozess. Ich habe noch
       keine Vorstellung davon, wie ich nach dem Krieg schreiben werde.
       
       taz: In einer Geschichte spazieren Vater und Sohn durch das verlassene
       Charkiw und sehen sich eine Aufzeichnung des legendären Fußballspiels an,
       in dem Maradona das Handtor erzielt hat. Ist diese Geschichte eine Art
       Parabel für die Situation in der Ukraine? 
       
       Zhadan: Die Kinder stehen für mich in diesem Krieg einfach an erster Stelle
       – sie sind am verletzlichsten, sie sind am wenigsten geschützt. Und
       gleichzeitig sind sie es, denen die Zukunft gehört, an ihnen hängen
       Hoffnung und Optimismus. Die Kinder, die im Land geblieben sind, machen den
       Glauben und die Stärke aus.
       
       taz: Betreiben Sie weiterhin das „Frontradio“ Radio Chartija? 
       
       Zhadan: Ja, wir haben das erste Brigade-Radio in der ukrainischen Armee
       gegründet – Radio Chartija (dt.: „Radio Charta“, benannt nach der Einheit
       Zhadans). Es ist ein Onlinemedium, mit dem wir versuchen, das Leben und die
       Aktivitäten der Brigade abzubilden, ihre Philosophie und ihre Grundsätze
       vorzustellen. Wir sind auf unserem Youtube-Kanal oder über unseren
       Radio-Button zu hören und zu sehen. Wir lassen auch Kulturschaffende und
       Vertreter der Gemeinden, die direkt an der Front liegen, zu Wort kommen und
       versuchen, aktuelle Themen und Diskussionen zu begleiten. Wir wollen
       spüren, wie sich die Töne und Stimmen der Gesellschaft verändern, wie das
       Land heute klingt, was es sagen – und was es hören will.
       
       taz: Wie sieht die Arbeit der Journalist:innen bei Radio Chartija aus? 
       
       Zhadan: Wir nehmen viele Podcasts auf und berichten direkt von den
       Positionen, wo unsere Soldaten stehen. Wir haben aber auch ein Studio, aus
       dem wir live senden, in das wir viele interessante Gäste einladen, die
       heute in Charkiw leben, Armeeangehörige, aber auch Zivilisten. Wir möchten
       die Stadt porträtieren, die seit mehr als drei Jahren die Stellung hält und
       versucht weiterzuleben und sich selbst zu erhalten. Die Studio-Mitarbeiter
       sind auch unterwegs, sie fahren in Orte und Dörfer, die an der Front
       liegen, und senden live von dort. Der Radiosender ist nicht mein
       persönlicher Arbeitsschwerpunkt, aber ein wichtiger Teil dessen, was ich im
       vergangenen Jahr getan habe.
       
       taz: Wie ist Ihr Tagesablauf derzeit? 
       
       Zhadan: Jeden Tag gibt es zahlreiche Aufgaben, Sitzungen, Gespräche und
       Absprachen. Das ist eine Menge Arbeit, aber sie kommt der Brigade und
       meinen Kollegen zugute, so dass niemand motiviert werden muss.
       
       Was gibt Ihnen Kraft nach mehr als drei Jahren Krieg? 
       
       Zhadan: Die eigene Verantwortung und die große Liebe zu den Menschen, mit
       denen ich Zeit und Ort teile.
       
       Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
       
       31 Mar 2025
       
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