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       # taz.de -- Bilanz der Leipziger Buchmesse 2025: Dem irrlichternden Moment auflauern
       
       > Die Leipziger Buchmesse verzeichnet Besucherrekorde. Eindrücke zwischen
       > Osteuropadiskurs, Groschen-Romance und einer leicht verschobenen
       > Preisdebatte.
       
   IMG Bild: Viel Andrang für heiße Luft: Bücherfans stehen in der Schlange vor dem Leipziger Messegelände
       
       In der aktuellen Großwetterlage ist Norwegen ein relativ harmloses Gestirn:
       demokratisch regiert, stabil seit Jahren den ersten Platz im Ranking der
       Pressefreiheit bekleidend. Des Königs Macht ist eher mit dem Kollegen in
       Großbritannien als in Thailand zu vergleichen, und Rechtsextreme, tja,
       davon gibt es in Norwegen auch nicht mehr als in den restlichen
       europäischen Ländern.
       
       Im Rahmen seines Auftritts als Gastland der Leipziger Buchmesse musste man
       sich daher auf keine größeren Fauxpas einstellen; kein Vergleich etwa
       [1][mit dem absurden Auftritt Italiens im vorigen Herbst bei der
       Frankfurter Buchmesse,] als das Personal der postfaschistischen Regierung
       Melonis über das eigene Kulturverständnis (und den zugrundeliegenden
       Volksbegriff) referierte.
       
       Interessant dürfte es in der Mainmetropole auch dieses Jahr wieder werden:
       Im Oktober stehen die Philippinen im Fokus. Dort stehen die Chancen nicht
       schlecht, dass nach der Festnahme von Ex-Präsident Rodrigo Duterte die
       Rivalität der beiden politischen Clans des Landes demnächst in rohe Gewalt
       umschlägt.
       
       ## Deutschland, Haupt-Absatzmarkt von Norwegen
       
       Nun aber Norwegen. Deutschland ist für die Literatur des 5,5 Millionen
       Einwohner:innen zählenden Landes weltweit größter Absatzmarkt. Man
       treffe sich unter norwegischen Schriftstellern ja inzwischen nur noch bei
       Lesungen in Deutschland, kommentiert das Bestsellerautor Erik Fosnes
       Hansen, der fließend Deutsch spricht.
       
       Die großen Stars sind alle da, die für ihre „Geschichte der Bienen“
       berühmte Maja Lunde etwa oder Karl Ove Knausgård. Vor Publikum, das in der
       Mehrzahl Knausgårds praktische weiße Kurzhaarfrisur spiegelt, spricht er
       mit Thea Dorn über seinen neuen Roman „Die Schule der Nacht“ und wie
       umzugehen ist mit schlechten Menschen, die gute Literatur schreiben.
       
       So richtig in Gang kommt das Gespräch jedoch nicht, Knausgårds Antworten
       sind zwar wohlüberlegt, passen zu Dorns Fragen allerdings selten. Es lässt
       sich aber auch schlecht denken hier: Heiß ist in den gewächshausartigen
       Gängen des Leipziger Messegeländes, stickig und laut.
       
       ## Verlierer in Barbour
       
       Besonders zu schaffen macht das einem bei der Verleihung des Preises der
       Leipziger Buchmesse, [2][den neben Thomas Weiler (Übersetzung) und Irina
       Rastorgueva (Sachbuch) Kristine Bilkau für ihren Roman „Halbinsel“
       erhielt.] Es folgt, was dann immer folgt, die einen feiern, die anderen
       kritisieren die Entscheidung. Sauer stößt einigen auf, dass Bilkau sich
       ausgerechnet gegen Christian Kracht durchsetzte, der selbst, offenbar seit
       Wochen dieselbe abgewetzte Barbourjacke auftragend, [3][jedoch nicht den
       Clemens Meyer machte,] sondern einen guten Verlierer abgab.
       
       Überraschend, gar „verblüffend“ sei die Entscheidung für Bilkau, heißt es
       in der Zeit, dabei stand schon ihr letzter Roman „Nebenan“ auf der
       Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Statt zu erklären, warum „Halbinsel“
       ein langweiliges Buch ist, schießen die Zeit-Autoren giftige Pfeile in
       Herzchenform.
       
       Oder wie ist es anders zu verstehen, als dass sich die Autorin mit ihrem
       „ordentlichen und anrührenden Roman“ zwar nach bestem Wissen bemüht habe,
       aber nun mal in einer anderen Liga spiele als die Herren Kracht und Haas?
       Die nominierten Autorinnen Dischereit und Şahin werden jedenfalls nicht
       erwähnt. Etwas ratlos lässt einen auch die Berichterstattung in der
       Süddeutschen Zeitung zurück. Warum die Entscheidung „irgendwie ein bisschen
       wackelig wirkt“, wird nicht näher elaboriert.
       
       ## Die Branche ist ein Dorf
       
       Man trifft auf sie alle früher oder später im Leipziger Messegelände,
       irgendwo zwischen den vielen Mangafans, und bei den Lesungen in der Stadt,
       die Verfasser:innen der Bücher, über die man so spricht. Jonas Lüscher
       etwa, [4][Katja Petrowskaja] und Helene Hegemann. Im Gespräch mit
       SZ-Journalistin Christiane Lutz bestärkt letztere den Eindruck, dass sich
       [5][ihr jüngster Roman „Striker“] im Vorraum des Politischen bewegt.
       
       Augenscheinlich erzählt Hegemann darin eine Dissoziationsgeschichte, doch
       die Verweigerungshaltung, mit der ihre Figuren ihrer Umwelt begegnen, lässt
       sich durchaus in eine Gleichung bringen mit der Überforderung durchs
       Weltgeschehen. In Berlin, erzählt Hegemann, haben in kürzester Zeit sechs
       neue Kampfsportstudios eröffnet. Dass das parallel zur Aufrüstungsdebatte
       in Deutschland geschehe, findet sie interessant: Es scheine das Bedürfnis
       zu geben, den Körper zu kontrollieren, in Zeiten, wo einem die Umwelt immer
       weiter zerfasere.
       
       Die großen Namen sind eine Sache, doch was an so einer Buchmesse den
       meisten Spaß macht, ist eigentlich, dem irrlichternden Moment aufzulauern.
       Die Gespräche mit Neuverleger:innen etwa, die seit dem Tod des Berner
       Sennenhunds christliche Bücher herausgeben. Oder die Lesungen mit
       Autor:innen, die man unter normalen Umständen nie besuchen würde.
       
       ## Virenkrimi vom Virologen
       
       So erfährt man dann, dass der Virologe und Christian-Drosten-Antagonist
       Hendrik Streeck einen Virenkrimi geschrieben hat, in dem fast alles oder
       fast gar nichts erfunden ist. Dauerlächelnd spricht Streeck mit
       Freitag-Redakteur Dorian Baganz über Biowaffen. Ob die Amerikaner jetzt an
       allem Schuld sind, darüber scheint Unklarheit zu bestehen, bis Baganz
       schließlich auch nachfragen muss, ob denn nicht er hier eigentlich der
       Linke sei. Streeck ist jedenfalls keiner, der Mediziner sitzt seit wenigen
       Tagen für die CDU im Bundestag und möchte nach eigener Aussage recht gern
       Gesundheitsminister werden.
       
       Von Parteipolitik war auf dieser Messe ansonsten nicht allzu viel zu
       spüren. Waren 2024 noch SPD-Staatslenker Olaf Scholz und Frank-Walter
       Steinmeier zugegen, so war an politischem Spitzenpersonal diesmal praktisch
       nur Claudia Roth angereist. Die scheidende Kulturstaatsministerin (Grüne)
       nahm an einer Solidaritätsaktion für den [6][zu fünf Jahren Haft
       verurteilten algerischen Schriftsteller Boualem Sansal] teil.
       
       Vor dem Stand seines deutschen Verlags Merlin hielt Roth mit der
       Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Karin
       Schmidt-Friderichs und Verlegerin Katharina E. Meyer ein Transparent in die
       Höhe, auf dem die Forderung nach der sofortigen Freilassung Sansals
       prangte. Die Situation in anderen Ländern, vor allem in Osteuropa, und der
       Ukrainekrieg waren vielfach Thema in Leipzig. So wurde etwa [7][der
       belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman „Europas
       Hunde“] mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
       ausgezeichnet.
       
       ## Über Rechte kein Reden
       
       Über die Rechten im eigenen Land sprach man indes weniger, in Sachsen, dem
       Bundesland mit dem zweitbesten AfD-Ergebnis in Deutschland. Mit dem bloßen
       Auge sichtbar waren rechte Inhalte denn auch kaum. Rechte Verlage haben
       nicht an der Messe teilgenommen, stattdessen treffen die sich demnächst zu
       einer eigenen rechten Messe in Halle.
       
       Die diesjährige Messeausgabe wird einen Rekord aufstellen. Erstmals musste
       der Ticketverkauf für Samstag gestoppt werden. Schuld daran tragen
       wahrscheinlich weder Christian Kracht noch Hape Kerkeling, weder Kristine
       Bilkau noch Christoph Kramer. Schlangen bilden sich an diesen Messetagen
       eigentlich nur, wo verschnörkelte Buchtitel ausliegen, wo Drachen und knapp
       bekleidete Muskelmänner abgebildet sind: vor den Ständen der
       Romance-Verlage.
       
       Es ist an dieser Stelle müßig, sich darüber zu wundern, worin die
       Anziehungskraft dieser modernen Groschenromane abgesehen von ihren
       softpornografischen Inhalten besteht, dafür existiert dieser Trend schon zu
       lange. Trotzdem kommen die Gespräche in dieser Woche immer wieder auf den
       Romance- und Dark-Romance-Hype (bei letzterem verliert dann der Porno sein
       Präfix) zurück: Ist es nun gut oder schlecht, dass die Jugend (wieder)
       liest? Ist die Verzweiflung schon so groß, dass allein das geschriebene
       Wort zum Heilsversprechen geriert, ganz gleich, was da zwischen zwei
       Buchdeckel gepresst wird?
       
       Es scheint so, es schien bereits [8][bei der Eröffnung der Buchmesse am
       Mittwochabend] durch, als man das „Fest des Buches“ ausrief. Als werde noch
       alles gut, solange der Krimistapel auf dem Nachtisch nicht schrumpft.
       
       30 Mar 2025
       
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