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       # taz.de -- Schweigen der EU zu Türkei-Protesten: It’s geopolitics, stupid!
       
       > Aus der EU kommt nur Schweigen zu den demokratischen Missständen und
       > Protesten in der Türkei. Denn Geopolitik ist nun mal wichtiger.
       
   IMG Bild: Funkstille aus der EU. Eine Szene der Anti-Erdoğan-Demo am Breitscheidplatz, Berlin, 30. März 2025
       
       Brüssel taz | Wenn sich die Nato-Außenminister am Donnerstag in Brüssel
       treffen, dann wird auch Hakan Fidan einen großen Auftritt haben. Der
       türkische Außenminister freue sich darauf, seinen neuen US-Amtskollegen
       Marco Rubio zu treffen und die „strategische Schlüsselrolle“ der Türkei in
       den „euroatlantischen Beziehungen“ zu erläutern, heißt es im
       Nato-Hauptquartier. Die Türkei bleibe ein wichtiger „Pfeiler“ an der
       Südostflanke des Bündnisses, so Fidan.
       
       Auf kritische Fragen muss er sich nicht einstellen. Zwar gehen in der
       Türkei gerade Millionen gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf die Straße
       – dass Erdoğans wichtigster Rivale, Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu,
       unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert wurde, hat einen regelrechten
       Volksaufstand ausgelöst. Doch das interessiert die Nato herzlich wenig. Es
       geht um Geopolitik – und da ist und bleibt die Türkei unverzichtbar.
       
       Auch bei der EU herrscht [1][dröhnendes Schweigen]. Kommissionspräsidentin
       Ursula von der Leyen hat sich zwar eine halbherzige Verurteilung abringen
       lassen – İmamoğlus Verhaftung sei „äußerst besorgniserregend“. Doch außer
       einem Lippenbekenntnis zu „demokratischen Normen und Praktiken“ war der
       deutschen CDU-Politikerin nicht viel zu entlocken. Sanktionen? Fehlanzeige.
       In der europäischen Türkeipolitik herrscht „business as usual“.
       
       ## Milliarden für die Türkei
       
       Die EU will die Beziehungen zu Erdoğan und seinem autoritären Regime sogar
       ausbauen. In Brüssel redet man nicht nur von Visafreiheit und der Reform
       der Zollunion. Manch einer erwägt sogar die Wiederaufnahme der seit Jahren
       auf Eis gelegten EU-Beitrittsgespräche. Der erste Schritt wurde schon
       gemacht: Von der Leyen hat Erdoğan nach dem letzten EU-Gipfel per Video
       über die Ergebnisse informiert – fast so, als sei er schon Mitglied im
       Club.
       
       Wer nach Gründen forscht, muss nicht lange suchen: It’s geopolitics,
       stupid! Die Geopolitik hat Ankara, so meint man in Brüssel, zu einem
       unverzichtbaren „Player“ gemacht. Und das nicht erst, seitdem US-Präsident
       Donald Trump seine Bündnisverpflichtungen in der Nato infrage stellt und
       [2][einen Zickzackkurs in der Ukrainepolitik fährt]. Nein, die
       geopolitische „Wende“ hat früher begonnen, viel früher. Seit Dezember ist
       dies unübersehbar.
       
       Kurz vor Weihnachten flog von der Leyen, die Chefin der „geopolitischen
       EU-Kommission“ (diesen Titel hat sie sich schon 2019 verliehen),
       überraschend nach Ankara. „Eine weitere Milliarde Euro für das Jahr 2024
       ist auf dem Weg“, kündigte von der Leyen nach ihrem Treffen mit Erdoğan
       freudestrahlend an. Der Grund für die Eile: der kurz zuvor erfolgte Umsturz
       in Syrien – und die Rolle, die die Türkei darin spielt. It’s geopolitics,
       stupid!
       
       ## Proteste sind Störfaktor
       
       Das Geld aus Brüssel sollte ganz schnell fließen und nachhaltig wirken. Von
       der Leyen wollte Erdoğan nicht nur dafür belohnen, dass er Deutschland und
       die EU vor Migranten abschottet – seit dem berüchtigten Flüchtlingsdeal von
       Kanzlerin Angela Merkel 2016 sind schon viele EU-Milliarden in die Türkei
       geflossen. [3][Von der Leyen würdigte] auch Erdoğans Einsatz für den
       Umsturz in Syrien und für die Verteidigung der Ukraine gegen Russland.
       
       An diesem Kurs hält Brüssel bis heute eisern fest. Und nicht nur Brüssel.
       Auch in Paris und London wird Erdoğan als wertvoller geopolitischer Partner
       geschätzt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und der britische
       Premier Keir Starmer haben ihn sogar in ihre [4][„Koalition der Willigen“]
       aufgenommen, die die Ukraine nach einem möglichen Waffenstillstand
       militärisch absichern soll. Die Türkei könnte sogar Soldaten entsenden.
       
       Vor diesem Hintergrund fallen menschenrechtliche oder demokratische
       Erwägungen kaum ins Gewicht. Schlimmer noch: sie stören nur. Denn das
       Wichtigste ist im Moment die Geopolitik. Und da kann man auf keinen
       verzichten – nicht einmal auf einen Autokraten wie Erdoğan.
       
       2 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Proteste-in-der-Tuerkei/!6076239
   DIR [2] /Trumps-Gerede-ueber-eine-dritte-Amtszeit/!6075800
   DIR [3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-12/kommission-praesidentin-von-der-leyen-ursula-eu-tuerkei-gefluechtete
   DIR [4] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6073064
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eric Bonse
       
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