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       # taz.de -- Film über sächsische Provinz: Übersehenwerden als Grunderfahrung
       
       > Franziska Klaues Debütfilm „Mit der Faust in die Welt schlagen“ erzählt
       > vom Aufwachsen in der sächsischen Provinz in den Nuller und Zehner
       > Jahren.
       
   IMG Bild: Tobias (Camille Moltzen): Der Film bildet mit schmerzlicher Präzision ab, was für den Jungen zur Grunderfahrung wird
       
       Es ist alles ziemlich idyllisch – bis das Licht ausgeht. Zuerst sieht man
       die Brüder Philipp (Anton Franke) und Tobi (Camille Moltzen) beim Baden im
       Steinbruchsee. Sie klettern übers steinige Ufer, um in die Schlucht
       Echo-Klassiker wie „Was schwimmt auf der Neiße?“ – „Scheiße!“ zu rufen, bis
       ihre im See schwimmende Mama (Anja Schneider) sie zur Ordnung ruft.
       
       Mit den Rädern geht es zurück nach Hause, sommerlich-unbeschwert durch
       blühende Rapsfelder und stille Landstraßen. Zusammen mit ihrem Papa
       (Christian Näthe) stehen sie anschließend im noch nicht ganz fertig
       gebauten Eigenheim. „Macht mal Countdown!“, fordert er sie auf, bevor er
       den Schalter betätigt, der den kahlen Raum erhellt. Die Freude währt nicht
       lange – mit launischem Surren verglüht die Birne gleich wieder. Es ist ein
       treffendes Bild für das, was nach der Wende in vielen ländlichen Gebieten
       Ostdeutschlands passiert.
       
       [1][Constanze Klaues Film „Mit der Faust in die Welt schlagen“] ist voll
       mit solchen stimmungsvollen Vignetten, in denen die Details auf so viel
       mehr verweisen als der bloße Handlungsbogen. Der ist inzwischen auf eine
       Weise vertraut, die an den Nerven zehrt: Erzählt wird vom Aufwachsen in der
       sächsischen Provinz in den Nuller und Zehner Jahren; die Transformationen
       der Nachwendezeit teilen die Gesellschaft in wenige „Sieger“ und viele
       „Verlierer“; trotz Neuanfang und Konsummöglichkeiten scheint alles in
       Auflösung begriffen, Arbeitsplätze, Ehen, Ausbildung. In diesem Vakuum hat
       das rechte Milieu leichtes Spiel, Oberhand zu gewinnen.
       
       Lukas Rietzschels Roman als Vorlage 
       
       Klaue, 1985 in Ostberlin geboren, hat sich für ihr Spielfilmdebüt [2][Lukas
       Rietzschels gleichnamigen Roman] zur Vorlage gewählt, setzt in ihrer
       Adaption aber durchaus eigene, bezeichnende Akzente. Wo Rietzschel die
       Ereignisse seiner Erzählung fest in den Weltereignissen verankert, die per
       Fernsehen, Radio und Elterngesprächen in die Welt der Jungs dringen, vom
       Fall der Twin Towers über die in Deutschland ausgetragene
       Fußballweltmeisterschaft bis zur Griechenland- und „Flüchtlingskrise“,
       lässt der Film das alles fast zur Gänze weg.
       
       Hier beschränkt sich die Handlung fast komplett auf Sommer und Herbst 2006
       und springt erst spät im Film ins Jahr 2015. Weltgeschichte spielt nur
       sporadisch eine Rolle in der sächsischen Provinz. Selbst eine Autofahrt
       nach Hoyerswerda kommt ohne den Blick auf eine rußgeschwärzte Fassade oder
       andere Verweise auf die Ausschreitungen von 1991 aus.
       
       Aber Klaue bezweckt durch die Auslassung kein Auslöschen der Geschichte
       oder gar Entschuldigen der Ahnungslosigkeit ihrer zwei jungen
       Hauptpersonen. Sie verändert lediglich den Blick des Zuschauers auf sie:
       Ohne Einrahmung in die Katastrophen des Weltgeschehens liegen weniger
       dunkle Vorahnungen über Philipp und Tobi. Der Fokus richtet sich dafür ganz
       auf ihre Perspektive, auf ihr Empfinden, auf ihr Begreifen.
       
       Was in der ersten Szene ein wichtiges Element der Idylle erscheint, nämlich
       dass die Brüder ungestört und unbeobachtet ihre Umgebung erkunden, stellt
       sich als struktureller Mangel heraus. Um sie herum sind die Erwachsenen
       viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie den Kindern viel Beachtung
       schenken würden.
       
       Widersprüchliche Erwachsene 
       
       So kehren sich die Verhältnisse um und die Kinder werden zu Beobachtern der
       widersprüchlichen Entwicklung ihrer Eltern. Klaue zeigt es in kleinen,
       beiläufigen Szenen: Das Unwohlsein am Abendbrottisch, wenn die Eltern
       kleine, spitze Beleidigungen austauschen. Philipp erhascht beim Gartenfest
       den verräterischen Blickwechsel zwischen seinem Vater und der Nachbarin.
       Tobi spürt, dass Uwe (Meinhard Neumann), der alte Bekannte, der beim Bau
       des Hauses aushilft, den anderen unangenehm ist. Er überhört die Kette der
       Bemerkungen; Uwe soll seine Frau bespitzelt haben, Uwe kommt vom Alkohol
       nicht weg, Uwe will Hilfe. Später dann der Schreckenssatz: „Man hat Uwe
       gefunden.“
       
       So bildet der Film mit schmerzlicher Präzision ab, was für die Jungs zur
       Grunderfahrung wird: das Übersehenwerden, das oft nur durch grobes
       Anherrschen unterbrochen wird. „Pass auf deinen Bruder auf!“, „Mach keinen
       Blödsinn!“, „Iss deine Gurken!“. Momente der Anteilnahme sind rar. Die Art
       und Weise, wie Tobi vom Tod seines Großvaters erfährt, ist herzzerreißend
       in ihrer Herzlosigkeit.
       
       Klaue gelingt bei alledem das Kunststück, die Schuld dafür, dass zuerst
       Philipp und dann Tobi sich einer rechten Clique anschließen, nicht allein
       den Erwachsenen oder den [3][Nachwendezerrüttungen] zuzuschreiben. In ihrem
       atmosphärisch so dichten Erzählen hat der Hintergrund, vor dem sich das
       alles ereignet, historische Tiefe. Die Wut des Vaters auf die Polen, die
       ihm vermeintlich die Arbeit wegnehmen, der Busfahrer und seine
       antisemitischen Witze, die Sehnsucht der Jungs, zu den Stärkeren gehören zu
       wollen, die Hilflosigkeit und Inkompetenz der Lehrer*innen – es kommt
       vieles zusammen. Nichts davon ist zwangsläufig.
       
       2 Apr 2025
       
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