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       # taz.de -- Ausstellung über umstrittenen Neurologen: In den Hirnwindungen des Revolutionärs
       
       > Was verbindet einen heute fast vergessenen Hamburger Arzt mit Lenins
       > Leichnam? Dem spürt eine kleine, gelungene Ausstellung nach.
       
   IMG Bild: Der „Fall Lenin“: Max Nonnes Akte über seinen weltweit bekannten Patienten (1923)
       
       Der Weg hinein geht vorbei an einer Sammlung von Büsten: Lenins
       unterschiedlicher Größe und Material, augenzwinkernde Devotionalien. Dann
       zwei Räume voll von Objekten, die aus unterschiedlichen Gründen in den Bann
       ziehen: Akten aus der Psychiatrie, Filmaufnahmen halbnackter Männer, ein
       Apparat, mit dem Stromstöße verabreicht wurden, ein Ölporträt des Arztes
       Max Nonne und seine Büste – beides auf die Seite gekippt. In Vitrinen
       originale Briefe, Telegramme, Briefmarken mit den Konterfeis von Lenin, Che
       Guevara, Reinhard Heydrich, die Schreibmaschine der Bibliothek Warburg,
       allerhand Andachts- und Kitschobjekte, ja, sogar Spielzeuge, die die
       Lenin-Verehrung in Ost und West seit seinem Tod bezeugen.
       
       In einem Interview von 2024 erklärte Wladimir Putin erneut seine
       imperialistische Weltsicht, [1][dass der Begründer der Sowjetunion einst
       die Selbstbestimmung der Ukraine akzeptiert habe] – was einer Demontage
       Lenins gleichkommt, denn für Putin war das ein Fehler. Dieses Video bildet
       den Endpunkt der Hamburger Ausstellung „Lenins Tod. Eine Sektion“.
       
       Wie hängt das alles zusammen? Auf dem schwarzen Fußboden deuten dicke rote
       Linien an, dass man sich in einer Montage bewegt. Ausgangspunkt für die
       vielen Assoziationen ist eine stark verschmutzte, zerfledderte Akte. Darin
       hatte Max Nonne, ein umstrittener Neurologe am Krankenhaus
       Hamburg-Eppendorf, neben anderen Privatkonsultationen seinen „Fall Lenin“
       dokumentiert. Heute kaum noch bekannt, war Nonne im ersten Drittel des 20.
       Jahrhunderts eine Berühmtheit. Er hatte eine demütigende, schmerzvolle
       Behandlungsmethode entwickelt, mit der traumatisierte Soldaten des Ersten
       Weltkriegs mit Stromstößen kuriert werden sollten. Sie erwies sich als
       nutzlos und wurde schon zu seinen Lebzeiten heftig kritisiert.
       
       ## Eine zwiespältige Persönlichkeit
       
       Trotzdem wurde Nonne zusammen mit weiteren deutschen Ärzten im Jahr 1923 an
       Lenins Moskauer Krankenbett gerufen – die Todesursache im Januar 1924 blieb
       dann erst mal unklar. Offenbar hatte Nonne den „Fall Lenin“ nicht aufgrund
       medizinischer Besonderheit dokumentiert, sondern weil der Patient Prestige
       versprach. Die im Titel der Ausstellung benannte „Sektion“ ist eine
       Anspielung auf die pathologische Leichenschau, meint aber vor allem den
       Blick der Ausstellung selbst: auf einige kulturelle Verzweigungen nach
       Lenins Tod.
       
       Im ersten Raum wird Nonne mit seiner Karriere bis in die 1950er-Jahre
       vorgestellt – und als zwiespältige Persönlichkeit: Einerseits war er
       selbsterklärter Antisemit, der sich andererseits für entlassene jüdische
       Kollegen einsetzte. Als Gutachter wiederum befürwortete er 1941 die Tötung
       von geistig behinderten Kindern. Die erb- und rassenbiologischen
       Auffassungen des Mediziners werden im zweiten Raum mit der
       nationalsozialistischen Propaganda assoziativ verknüpft.
       
       Die Lenin-Konsultation und dessen Tod bieten Anlass, den Begräbnis- und
       Totenkult des Revolutionärs zu untersuchen. Ein wichtiges und Verbindung
       schaffendes Objekt ist eine Briefmarke, die nachweislich erste Trauermarke
       mit dem schwarz-weiß stilisierten Porträt Lenins. Das Artefakt geriet in
       die Hände des berühmten [2][Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg]. Er
       attestierte dem Mikrobild wahren Kunstwert! Für den Leiter des
       Medizinhistorischen Museums, Philipp Osten, ist dieses populäre Objekt
       Anlass, eine kurze Geschichte von Trauerbriefmarken zu entfalten.
       
       ## In Lenins Hirnwindungen
       
       Der Lenin-Kult wiederum lenkt die rote Linie zum NS-Märtyrertod-Kult, der
       ebenfalls in Briefmarken, aber auch in Postkarten, Denkmälern und Spielzeug
       seinen Ausdruck fand. Auf Schritt und Tritt, von Vitrine zu Texttafel wird
       man zu kulturgeschichtlichen Verknüpfungen angeregt, die aber den
       medizinhistorischen Blick nicht verlieren.
       
       Die Aussagekraft von Gehirnwindungen, die die Ausstellung zum Ende
       thematisiert, führt in unsere Gegenwart. Heute noch wird in Bildern der
       Computertomografie über die farbliche Kennzeichnung von angeblich guten,
       kranken oder genialen Arealen zum Charakter eines Menschen spekuliert. Um
       Lenins Gehirn zu untersuchen, wurde 1925 erneut ein deutscher Neurologe und
       Psychiater nach Moskau beordert: Im Institut für Hirnforschung
       mikroskopierte Oskar Vogt tausende von Hirnschnitten und kam zu dem
       Ergebnis, dass Lenin aufgrund der ungewöhnlichen Anhäufung von
       „Pyramidenzellen“ eine überdurchschnittliche Denkleistung gehabt haben
       musste.
       
       Die kleine, sehr sehenswerte Ausstellung wagt durch ihren montageartigen
       Zugang viel, indem sie „Psychiatrie, Pathologie und Propaganda“ (so der
       Untertitel) zusammenbringen will. Angesichts heutiger autokratischer
       Entwicklungen, ideologischer Machtansprüche und Algorithmus-gesteuerter
       Propagandaschlachten kann man hier einen Denkanstoß für eine ‚Sektion‘
       gegenwärtiger Heldenproduktionen bekommen.
       
       20 Jun 2025
       
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