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       # taz.de -- Am Mittagstisch mit Kollegen: Offenbarung in der Pause
       
       > Viele Berufstätige gehen in die Kantine, andere bringen lieber
       > selbstgekochtes Essen mit. Wie viel Persönliches steckt in der eigenen
       > Lunchbox?
       
   IMG Bild: Zeig mir deine Lunchbox und ich sag dir, wer du bist: Spuren des Typs Gurke-Dill
       
       Es ist halb zwei, die Mikrowelle summt eine liebliche Melodie. Sie
       signalisiert: Essen ist fertig. Einer meiner Lieblingskollegen sitzt
       bereits am Pausentisch unseres Großraumbüros, wir essen beide asiatisch.
       Seins: gekauft, indonesischer Imbiss. Meins: selbst gekocht, vietnamesisch.
       Beide: [1][Reis], Tofu, Gemüse. Während wir uns über Belangloses
       unterhalten, sagt er beiläufig: „Mitgebrachtes Essen ist so intim.“
       
       Die Nahrungsaufnahme während der Arbeit soll vor allem einen Zweck erfüllen
       – satt machen. Das geschmacklose Essen der Kantine, das
       Supermarkt-Sandwich, der Imbiss. Vor- und abgefertigt, konform.
       Mitgebrachtes Essen hingegen ist persönlich und erzählt darum viel mehr
       über das Wesen des Konsumierenden. Was wird gekocht, wie groß ist die
       gewählte Portion, aus welchem Material ist die Box?
       
       Sehr lange besaß ich kein To-Go-Behältnis für Essen, dann gab mir Mutter
       ein kleines, rundes Gefäß aus Glas mit Kunststoffdeckel. Anders als bei
       anderen Leihgaben wollte sie es nicht zurück. Es ist mikrowellenkompatibel,
       und es passt genau eine Portion für den Tagesdienst hinein, häufig genau
       das zu viel Gekochte vom Vorabend. Am besten nicht zu satt machend,
       ausreichend bis zum Abendessen.
       
       Während einer Radreise kommt ein zweites – etwas größer, rechteckig,
       komplett aus Kunststoff – aus dem Carrefour dazu, besser geeignet für den
       Abenddienst. Ich bereite mir dafür meist Salat zu, mit Dingen, die noch im
       Kühlschrank sind. Das macht länger satt und reicht aus, um danach ohne
       Zwischensnack ins Bett zu fallen.
       
       ## Kommentare über „komische Gerüche“
       
       Ob Reste, Vorgekochtes oder Improvisiertes – eines dieser beiden
       Behältnisse sind Teil meines [2][Arbeitsalltags] geworden. Aus
       pragmatischen, finanziellen und kulinarischen Gründen. Für mich erfüllt
       Essen nämlich nie einfach nur einen Zweck. Zuhause koche ich das, worauf
       ich Appetit habe. Warum sollte ich in der Pause auf das verzichten, was mir
       Genuss bereitet? Die Lunchbox als Spiegel unserer Identität.
       
       Während ich beim Mittagessen mit dem Kollegen noch über die Bedeutung von
       Intimität nachdenke, schaue ich auf meinen Löffel vor mir und das Etwas mit
       Reis. Welche meiner Charaktereigenschaften werden hier gerade offenbart?
       
       Ich lasse Gewürze und Gerüche Revue passieren. Kein Tier: nachahmenswert.
       Keine Fischsauce: ebenfalls Erleichterung. Obwohl mein Gegenüber so wenig
       vegetarisch ist wie ich, bin ich froh darüber – keine Lust auf Meatshaming.
       Eigentlich unterscheidet sich mein Gericht nicht sonderlich von dem Imbiss
       des Kollegen, ist vielleicht weniger hübsch.
       
       Bevorzugt essen wir in Gesellschaft von Menschen, die uns wohlgesonnen
       sind. Am Arbeitsplatz ist das anders, da suchen wir uns unsere Mitmenschen
       nicht aus. In meiner Historie gab es sie natürlich, die Kommentare über die
       „komisch riechenden Nahrungsmittel“ und ob es am Hund oder der Katze liege.
       Es war für mich Alltag, dass ich als diejenige galt, deren Essen nicht
       „normal“ sei.
       
       In meinen Zwanzigern brachte mir meine Mutter bei jedem Besuch Proviant
       mit, frisch gekochte Lieblingsspeisen wie die Krabbensuppe Bún riêu oder
       Thịt Kho, karamellisierter Schweinebauch. Damit nichts verkommt, habe ich
       die weniger exotischen Gerichte wie Trứng Hấp, gedämpfter Eierbraten, auch
       mal mit zu einem meiner diversen Jobs gebracht.
       
       Meine Esslust konnte ich dort nie wirklich ausleben: Die mit Liebe
       gekochten Gerichte meiner Mutter habe ich nicht mit Verlangen, sondern nur
       verlegen genossen. Als erwachsene Frau erwische ich mich auch heute noch
       dabei, wie ich Sorge habe, dass mein Essen kommentiert werden oder jemanden
       stören könnte.
       
       ## Wasserspinat und gegrillter Zitronengrasfisch
       
       Auch wenn mein aktuelles Großraumbüro mit maximal sechs Personen belegt
       ist, bemühe ich mich, meine Herkunft möglichst nicht in Viktualien
       auszudrücken. Aber warum verleugne ich, wer ich bin? Und dann auch noch aus
       (falscher) Rücksichtnahme?
       
       In der vietnamesischen Kultur hat Essen einen hohen Stellenwert. Essen ist
       Fürsorge, Gemeinschaft und, ja, Intimität. Selten wird allein gegessen und
       noch seltener gibt es einen eigenen Teller mit einer eigenen Portion.
       Unterschiedlichste Kostbarkeiten wie Wasserspinat, gegrillter
       Zitronengrasfisch oder saure Fischsuppe werden in die Mitte gestellt und
       jede*r schnappt sich mit den Stäbchen etwas heraus. Eine Form des
       geteilten Essens, die etwa in der spanischen oder israelischen Kultur
       genauso praktiziert wird.
       
       Selbst Marge Simpson weiß um die Vorzüge der vielen Kleinigkeiten: Sie
       seien wie Appetithappen für einen Hauptgang, der nie kommt. Zudem trendet
       die vietnamesische Küche. Spätestens seitdem Anthony Bourdain mit Barack
       Obama 2016 in Vietnam Bún cha gegessen hat, erholte sich meine Heimatküche
       rasant von manch übler Nachrede. Inzwischen gibt es in meiner alten
       Wohnstraße vier vietnamesische Lokale.
       
       Eine Absolution für mitgebrachtes, vietnamesisches Essen? So weit sind wir
       wohl noch immer nicht. Eines Tages sitze ich am Pausentisch, als eine
       Gruppe von Kolleg*innen hereinstampft und demonstrativ die Fenster
       aufreißt. Was rieche denn so komisch, irgendwie nach Fuß? Sie rümpfen die
       Nase, schielen ausschließlich auf meine Schale. Mir bleibt der Hund im Hals
       stecken. Dabei hatte ich Salat mit geräuchertem Tofu dabei, alles aus dem
       deutschen Supermarkt, mit Apfel- statt Reisessig.
       
       Es ist eine Selbstverständlichkeit, in Räumen, die gemeinsam genutzt
       werden, keine Nasen unnötig zu penetrieren. Doch ist Essig wirklich so viel
       schlimmer als eine Portion Pommes oder der Leberkäse? Liegt es vielleicht
       gar nicht am Essen, sondern an der essenden Person? Trage ich mit meinem
       offensichtlichen asiatischen Aussehen schon die Katze im Bauch mit mir
       herum? Oder sagt es nicht viel mehr über die Herzensenge der urteilenden
       Person aus?
       
       Zur Aufklärung deutscher Nasen werde ich weiterhin duftende Happen
       mitbringen und im Gegenzug auch mal mit in die Kantine gehen. Intimität
       steht immerhin auch für Verbundenheit – und die braucht man während des
       gemeinsamen Arbeitens ganz besonders.
       
       7 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Du Pham
       
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