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       # taz.de -- Stadtentwicklung im Berliner Speckgürtel: Übers Ziel hinausschießen
       
       > Oranienburg wächst – und hat nun erstmals 50.000 Einwohner. Der
       > Bürgermeister plant mit noch mehr Zuzug. Wächst damit die Gefahr einer
       > Schlafstadt?
       
   IMG Bild: Bürgermeister Alexander Laesicke und Viktoria Dreher beim Pflanzen einer Eiche
       
       Oranienburg taz | Alexander Laesicke klingt nicht, als würde es ihm
       irgendwo wehtun. „Wir wollen weiter wachsen“, lächelt der parteilose
       Bürgermeister von Oranienburg in die Kameras. Gerade erst wurde ein neuer
       Bürger der Stadt geboren. Weil mit ihm die lang ersehnte 50.000er Marke
       gerissen wurde, hat Laesicke die Medien zum Fototermin eingeladen. Seine
       Botschaft: Wachstum schmerzt nicht, Wachstum kann auch Spaß machen.
       
       Leonard Dreher heißt das kleine „Oranienbürgerchen“, wie es die Stadt
       nennt. Ihm zu Ehren wird an diesem sonnigen Tag im Schlosspark eine Eiche
       gepflanzt. Mit über 50.000 Bewohnerinnen und Bewohnern hat die Stadt an der
       Havel ihren [1][Rang als Brandenburgs Nummer fünf] bekräftigt – nach
       Potsdam, Cottbus, Brandenburg an der Havel und Frankfurt (Oder). Aber noch
       vor Falkensee, Bernau und Eberswalde.
       
       Schmerzen hat Laesicke also nicht, aber natürlich weiß auch er, dass das
       rasche Wachstum Probleme mit sich bringt. „Das fängt an bei Kitas und
       Schulen“, zählt er auf. „Es geht weiter über Wasserwerk und Klärwerk. Also
       alles, was Menschen brauchen, um zu leben, muss mitwachsen. Das ist
       manchmal eine Herausforderung, wenn es ein starkes Wachstum ist.“
       
       ## Bundesweite Schlagzeilen
       
       Wegen der Herausforderungen, die der Bürgermeister anspricht, war
       Oranienburg vergangenes Jahr sogar bundesweit in die Schlagzeilen geraten.
       Weil das Stromnetz überlastet war, hatte die Stadt angekündigt, keine neuen
       Stromanschlüsse mehr zur Verfügung zu stellen. „Strom-Alarm in
       Oranienburg“, hatte das Magazin Focus getitelt. „Stromnetz ausgelastet.
       Erstes Stadtwerk stoppt Anschluss von Neukunden“, schrieb der Spiegel.
       
       Mehr Menschen bedeuten nicht nur mehr Eigenheime, Wärmepumpen, Strom für
       den Toaster und das E-Auto. Sie bringen auch die Infrastruktur an den Rand
       ihrer Kapazitäten. Inzwischen ist das Problem gelöst. Der Stromversorger
       hat die Kapazität erhöht. [2][Zudem soll ein neues Umspannwerk für 35
       Millionen Euro gebaut werden].
       
       Für die Stadt ist das neue Werk auch eine Investition in die Zukunft. Denn:
       60.000 Bewohnerinnen und Bewohner seien machbar, sagt Alexander Laesicke.
       
       Oranienburgs Wachstum ist tatsächlich bemerkenswert. Als die Mauer fiel,
       hatte die Stadt gerade einmal 20.000 Einwohner. 2005 war die Kreisstadt vom
       Landkreis Oberhavel auf 37.000 gewachsen, 2020 auf 45.000. Ein Booster war
       die Landesgartenschau 2009 mit ihren 600.000 Besucherinnen und Besuchern.
       Seitdem glänzt der Schlosspark – in dem nun eben die Eiche für das
       Oranienbürgerchen Leonard gepflanzt wurde.
       
       Doch der Park wirft gleichzeitig einen Schatten auf die Brache vor dem
       Schloss. Wo sich einst die Altstadt Oranienburgs mit dem Postkartenmotiv
       des 1711 erbauten barocken [3][„Hotel Eilers“] befand, parken heute Autos.
       Schon lange gibt es Pläne, das Hotel wieder aufzubauen: als neuen Sitz der
       Stadtverwaltung, deren Räume im Schloss nicht mehr reichen.
       
       Was als Startschuss für eine Entwicklung des ehemaligen Altstadtareals
       gedacht ist, wirft allerdings auch grundsätzliche Fragen einer wachsenden
       Stadt auf. Geht es allein um die Quantität des Wachstums? Oder auch um
       Qualität?
       
       Statt eines reinen Verwaltungsbaus, in dem ab 18 Uhr die Rollos
       runtergehen, wünscht sich die Linke auf dem heutigen Parkplatz vor allem
       mehr Raum für Kultur, zum Beispiel eine Bühne für Konzerte wie im Gladhouse
       in Cottbus. „Oranienburg darf keine Schlafstadt werden“, sagt der
       Linken-Stadtverordnete Ralph Bujok. Um das zu verhindern, müsse die
       Lebensqualität in der Innenstadt verbessert werden, auch mehr Arbeitsplätze
       sollten entstehen.
       
       ## Auch Königs Wusterhausen boomt
       
       Angst davor, dass vor allem Pendlerinnen und Pendler aus Berlin in die
       Stadt ziehen, gibt es auch im Südosten der Hauptstadt. Wie Oranienburg hat
       auch Königs Wusterhausen (KW) einen S-Bahn und Regionalbahnanschluss – und
       es wächst. Zur Wende zählte KW 18.000 Einwohner, heute sind es 39.000, also
       mehr als doppelt so viele. [4][Nun sollen im neuen Stadtteil „Königspark“
       weitere 5.000 dazu kommen]. Nicht im Zentrum, sondern nahe der Autobahn.
       
       Wo sind die Grenzen des Wachstums? Um diese Frage zu diskutieren, hatten
       Anfang Oktober 2024 die Grünen in KW zu einer Veranstaltung geladen. Über
       Wachstumsschmerzen sollte geredet werden und auch über die Frage, wann der
       kleinstädtische Charakter von Königs Wusterhausen verloren geht.
       
       Denn der Königspark wirft in der Stadt viele Fragen auf, auch wenn er
       zuletzt eine wichtige Hürde genommen hat. In einer Bürgerbefragung im
       August 2024 sprachen sich 58 Prozent der Teilnehmenden für die Entwicklung
       der Fläche als Mischgebiet aus. Für ein bisher in einem Bebauungsplan
       festgesetztes Gewerbegebiet könnten sich 42 Prozent erwärmen.
       
       Mit bei der Veranstaltung der Grünen war die Stadtplanerin und Forscherin
       Cordelia Polinna. Für sie ging es dabei auch um ein Thema, das über den
       Königspark hinausreicht. „Wie kann sich Königs Wusterhausen im
       Spannungsfeld zwischen Berlin und der Lausitz aufstellen?“, fragt sie. Denn
       es sei schon bemerkenswert, wenn im Speckgürtel Wohnungsbau in dieser
       Größenordnung geplant werde und weiter südlich in der Lausitz noch immer
       Wohnungen abgerissen würden.
       
       Auch in der Potsdamer Staatskanzlei diskutieren sie darüber. Schon 2021
       wurde in einer [5][„Regionalentwicklungsstrategie“] beschlossen,
       Fördergelder im Land verstärkt entlang der festgelegten Entwicklungsachsen
       einzusetzen. Statt „dezentraler Konzentration“ und „Stärken stärken“ lautet
       das Leitbild seitdem „Stärken verbinden“.
       
       Anders als in den Brandenburger Regionen, die zwischen den Korridoren
       liegen, ist das Wachstum in KW und Oranienburg also nicht nur planerisch
       erlaubt, sondern auch politisch erwünscht. Aber ist es auch verträglich?
       
       Michael Gleissner aus dem Ortsteil Diepensee von KW meint: Nein. Bereits im
       November 2023 hatte Gleissner auf der Plattform openpetition.de eine
       Petition gegen den Königspark gestartet. [6][„Nein zur Retortenstadt im
       Königspark“], hieß es da. Bis April 2024 haben 1.354 Menschen die Petition
       unterzeichnet. Sie fürchten, dass der Königspark zu einer reinen
       Schlafstadt wird.
       
       Auch Cordelia Polinna sieht den Königspark kritisch und nennt ihn ein
       „Investorenprojekt, das in vieler Hinsicht nicht mehr zeitgemäß ist“. Auch
       die Größe des Königsparks mit einer Fläche von 56 Hektar hält sie für
       völlig überdimensioniert. Gleichzeitig kann sie auch die Bürgermeisterin
       verstehen, die sich für ein gemischtes Quartier und gegen ein Gewerbegebiet
       einsetzt.
       
       In Oranienburg soll mit der Fortschreibung des Integrierten
       Stadtentwicklungskonzepts „Insek“ dagegen vor allem die Innenstadt gestärkt
       werden. Die Zerstörungen im Krieg sind nicht nur eine Leerstelle, sondern
       auch eine Entwicklungschance.
       
       Doch diese Entwicklung gibt es nicht umsonst. Vorerst, sagt Oranienburgs
       Bürgermeister Laesicke, soll das Hotel Eilers nicht aufgebaut werden. Der
       Startschuss für die Altstadtentwicklung fällt wohl dem neuen Umspannwerk
       zum Opfer.
       
       6 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_St%C3%A4dte_in_Brandenburg
   DIR [2] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/05/brandenburg-oberhavel-oranienburg-strom-umspannwerk-stadtverordnetenversammlung.html
   DIR [3] https://hotel-eilers.de/
   DIR [4] https://www.koenigspark.de/
   DIR [5] /Neue-Regionalplanung-in-Brandenburg/!5801203
   DIR [6] https://www.openpetition.de/petition/online/ja-zu-kw-nein-zur-retorten-stadt-koenigspark
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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