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       # taz.de -- Koalitionsvertrag schwarz-rot: Immer schön fleißig!
       
       > Ein Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD zeigt: Die künftige
       > Regierung will Politik für Leistungsträger machen. Wer sind die
       > eigentlich?
       
   IMG Bild: Berlin Schönhauser Allee: Hat Schwarz-Rot doch noch ein Herz für arme Menschen?
       
       Sind Sie eine Leistungsträger:in? Wenn Sie das spontan bejahen können,
       dann willkommen im Club, Sie und ihre Familie stehen ab sofort im
       Mittelpunkt. So verspricht es die Präambel des [1][Koalitionsvertrags
       zwischen Union und SPD.] Und weiter steht da „Leistung und Anstrengung
       müssen sich auszahlen“.
       
       Falls Sie zweifeln, ob Sie gemeint sind – weil Sie gestern ihre zehntausend
       Schritte nicht geschafft haben, [2][weil Sie Bürgergeld beziehen] oder
       gerade ein Sabbatical machen, weil Sie Rentner:in sind oder
       erwerbsunfähig, können Sie ja die 144 Seiten des Vertrages durchgehen, um
       sich eine Meinung zu bilden. Dort taucht 113 Mal das Wort Leistung auf,
       zweimal der Begriff Solidarität und kein einziges Mal das Wort Muße.
       
       Wenn [3][die künftige Koalition] Leistungsträger, Leistung und Anstrengung
       so explizit benennt, dann muss in Abgrenzung dazu wohl auch eine Gruppe von
       Menschen existieren, die keine Leistungsträger sind, die sich nicht
       anstrengen. Unsere Gesellschaft ist demnach nicht, wie marxistisch
       geschulte Geister behaupten, in soziale Klassen von Herrschenden und
       Beherrschten oder Besitzenden und Nichtbesitzenden geteilt. Nein, laut
       Koalitionsvertrag stehen jenen, die etwas leisten, jene, die nichts leisten
       gegenüber. Also Fleißige versus Faule.
       
       Die Union ist ja schon lange der Meinung, dass Leistung sich nicht mehr
       lohne. CDU-Chef Friedrich Merz machte sich im vorigen Jahr Sorgen um die
       Arbeitsmoral im Land; wenn diese nur als „eine unangenehme Unterbrechung
       unserer Freizeit“ empfunden werde, führe das zu einem „massiven
       Wohlstandsverlust“. Zugleich forderte er mehr Respekt vor
       Besserverdienenden.
       
       ## Keine Leistungsbereitschaft mehr in Deutschland?
       
       Die SPD, die Letzteres damals scharf kritisierte, betont zugleich, dass man
       Politik vor allem für jene macht, die „morgens früh aufstehen“ und „die den
       Laden am Laufen halten“. Im Wahlkampf und bei der Vorstellung des
       Koalitionsvertrags klangen die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia
       Esken mit ihrem Lob der „Fleißigen“ schon wie die zweite Stimme zu
       CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der im Chor mit Merz permanent
       beklagt, in Deutschland gebe es keine Leistungsbereitschaft mehr, keiner
       strenge sich mehr an.
       
       Von der Union erwartet man nichts anderes, die versucht als Lobbypartei der
       Arbeitgeber nun mal allein die Beschäftigten dafür in Verantwortung zu
       nehmen, dass Deutschlands Wirtschaft schrumpft.
       
       Anders, als Merz und Co suggerieren, ist Deutschland kein Land, wo sich
       alle nur noch auf ihre Hobbys konzentrieren. Noch nie wurde so viel
       gearbeitet wie im vergangenen Jahr. [4][Die Zahl der Arbeitsstunden] lag
       2024 auf Rekordhoch bei über 60 Milliarden, genauso wie die Zahl der
       Erwerbstätigen. Fast 46 Millionen Menschen gehen einer Arbeit nach und
       damit fast doppelt so viele wie 1970. Richtig ist, damals wurde pro Person
       länger gearbeitet. Aber man kann sich schon fragen, wo ist das Problem,
       wenn doch insgesamt alle mehr anpacken.
       
       Für die SPD ist das Dauerlob der Fleißigen vor allem der Versuch, aus der
       Defensive zu kommen und sich vom Vorwurf zu befreien, man kümmere sich mehr
       um Menschen, die nicht arbeiten, als um jene, die arbeiten. Das von der
       SPD-Regierung eingeführte Bürgergeld sei demnach eine Art bedingungsloses
       Grundeinkommen, welches Faulheit fördere. Eine Argumentation, die auch bei
       jenen verfängt, um die sich die SPD – hervorgegangen 1863 aus dem
       Allgemeinen Deutscher Arbeiterverein – vor allem kümmern will: die
       einfachen Leute. Nur noch 12 Prozent der Arbeiter:innen wählten bei der
       Bundestagswahl sozialdemokratisch, 38 Prozent stimmten für die AfD, eine
       Partei, die Ausgrenzung und das Treten nach unten zum Programm erklärt hat.
       
       ## Glaube an das meritokratische Prinzip
       
       Statt sich dieser Logik zu verweigern oder zumindest argumentativ
       entgegenzutreten – es gibt schlichtweg keine Belege dafür, dass Menschen
       ihren Job kündigen, um sorglos vom Bürgergeld zu leben – und sich darauf zu
       konzentrieren die Bedingungen für Arbeitnehmer:innen zu verbessern,
       sind die Sozialdemokraten eingeknickt: Das Bürgergeld wird zurückgedreht,
       der Druck auf Arbeitslose massiv erhöht.
       
       Zugleich will [5][die schwarz-rote Koalition] die Arbeitszeit ausweiten. So
       soll die tägliche durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ersetzt werden,
       Überstundenzuschläge künftig steuerfrei sein, und wer als Rentner:in
       freiwillig weiterarbeitet, soll 2.000 Euro steuerfrei bekommen.
       
       Was Union und SPD dabei verbindet, ist der Glaube an das meritokratische
       Prinzip. Also, dass Leistung und Begabung darüber entscheiden (sollten),
       wer die wichtigsten Posten in der Gesellschaft besetzt. Der Union dient das
       als Legitimation für die großen Einkommens- und Vermögensunterschiede –
       Leistung drückt sich demnach in Gehalt und Besitz aus. In der SPD fußt die
       sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung auch auf dem
       Glauben, dass es jede und jeder durch eigene Anstrengung bis an die Spitze
       der Gesellschaft schaffen kann.
       
       Kritik an der Leistungsgesellschaft und ihrem meritokratischen Grundkonsens
       gibt es zuhauf – eine der bekanntesten und fundiertesten formulierte der
       US-amerikanische politische Philosoph Michael Sandel in seinem 2020
       erschienenen Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“. Sandel machte nicht nur
       deutlich, dass der Mythos vom Aufstieg aus eigener Kraft eben nicht mehr
       sei als ein Mythos und Privilegien zementiere. Kinder reicher Familien
       haben viel bessere Chancen im Auslesesystem amerikanischer
       Eliteuniversitäten und damit auch die Nase vorn im Rennen um gut bezahlte
       Top-Jobs. Auch in Deutschland haben Kinder aus Akademikerfamilien ungleich
       bessere Start- und Aufstiegschancen als Arbeiterkinder.
       
       ## Der Schwund von „Gnade“
       
       Der Harvard-Professor warnte zugleich davor, dass der Glaube an die
       Leistungsgesellschaft diese spalte – in abgehobene Eliten und wütende
       Verlierer – und das Gemeinwohl zerstöre. Die Leistung dränge dazu, die
       Gnade zu verdrängen, schreibt Sandel: „früher oder später versichern die
       Erfolgreichen, und glauben es allmählich auch, dass ihr Erfolg ihr eigenes
       Werk ist, und dass die Verlierer weniger wert sind“. Sandel erklärt den
       Erfolg des Populismus und die Wahl Donald Trumps 2016 mit der Wut der
       „Verlierer“, denen die Leistungsgesellschaft die Schuld an ihrem Scheitern
       zuschiebe und den Respekt verweigere.
       
       Für den Erfolg der Rechtspopulisten in Deutschland und insbesondere in
       Ostdeutschland sind sicher auch andere Faktoren entscheidend – Abwanderung,
       Deindustrialisierung, Überalterung und Männerüberschuss der Gesellschaft.
       Was aber diesseits und jenseits des Atlantiks spürbar ist, ist der Schwund
       von „Gnade“. Gnade mit jenen, die angeblich zu wenig leisten, Gnade mit
       jenen, die um Hilfe und Asyl bitten.
       
       Im Koalitionsvertrag manifestiert sich eine neue Unbarmherzigkeit. Auf
       Langzeitarbeitslose wird, wie beschrieben, mehr Druck gemacht, der
       sogenannte Vermittlungsvorrang wieder eingeführt. Wer arbeiten kann, soll
       arbeiten, egal ob er oder sie gerade eine Weiterbildung macht. Ob es genau
       so kommt, ist noch unklar. Aber der Geist von Hartz IV, als es wichtiger
       schien, Menschen in Call-Center zu vermitteln als zum IT-Manager
       weiterzubilden, weht auch durch die „Neue Grundsicherung“.
       
       Auch Geflüchtete können nicht mit einer Willkommenskultur rechnen, ein
       Begriff, den kaum noch jemand in den Mund nahm und der es auch nicht in den
       Koalitionsvertrag geschafft hat. Schneller abschieben, weniger reinlassen,
       so das Credo der Flüchtlingspolitik.
       
       ## Starren auf die, die nichts haben
       
       Für Fachkräfte, oder wie es Gerade-noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf einer
       Parteiveranstaltung ausdrückte, „für Menschen die uns nützen“, will sich
       Deutschland dagegen weiter öffnen. Diese Klassifizierung von Menschen, die
       nützlich sind und die nicht nützlich sind, weckt nicht nur beklemmende
       historische Assoziationen. Es lenkt auch ab von grundlegenden
       Verteilungsdebatten.
       
       Deutschlands Wirtschaft schrumpft, das schränkt die Spielräume eines
       Staates ein, der darauf eingestellt ist Wachstums- und Wohlstandsgewinne zu
       verteilen, aber nichts an der grundsätzlichen Verteilung des Wohlstands zu
       ändern.
       
       Eine Reform der Erbschaftsteuer oder eine Wiedereinsetzung der
       Vermögensteuer hat die künftige Koalition nicht geplant. Die SPD ist ihrer
       jahrelangen Tradition treu geblieben, beide Forderungen im Wahlkampf tapfer
       vor sich herzutragen und mit Beginn der Koalitionsverhandlungen kleinlaut
       wieder abzuräumen.
       
       Union und SPD starren lieber auf jene, die nichts haben und wollen bei
       ihnen Milliarden einsparen. Jenen oberen 1 Prozent der – ähem –
       Leistungsträger:innen etwas zuzumuten, die sehr, sehr viel besitzen,
       davor scheuen sie sich. Wobei das Wort „zumuten“ ein Euphemismus ist. Denn
       welche Art von Zumutungen würden die BMW-Erb*innen Susanne Klatten und
       Stefan Quandt spüren, wenn der Staat 10 Prozent ihres Vermögens von
       geschätzt 40 Milliarden Euro für uns alle beanspruchen würde? Die
       Geschwister wären weiterhin mehrfache Milliardäre, die Allgemeinheit hätte
       4 Milliarden Euro mehr in der Kasse für Schulen, Straßen, Schienen und –
       die Freizeit darf ja nicht zu kurz kommen – Schwimmbäder und Theater.
       
       ## An die Arbeit!
       
       Doch dem [6][Netzwerk Steuergerechtigkeit] zufolge, zahlen Hochvermögende
       und Topverdiener:inen in Deutschland oft weniger Steuern als
       Normalverdiener*innen. Was unter anderem daran liege, dass sie nicht von
       ihrer Arbeit, sondern von ihren Kapitaleinkünften leben. Darauf hinzuweisen
       und ihren Beitrag einzufordern, bleibt nun der Opposition vorbehalten
       namentlich Grünen und Linken.
       
       Und natürlich uns allen. Paradoxerweise will die künftige Koalition neben
       Mehrarbeit auch ehrenamtliche Arbeit stärker belohnen. Wie das mathematisch
       aufgehen soll, bleibt ein Rätsel. In einer [7][aktuellen Umfrage im Auftrag
       der Hans-Böckler-Stiftung] sagt die Hälfte der Befragten, sie hätten zu
       wenig Zeit, sich so stark politisch und gesellschaftlich zu engagieren, wie
       sie es wünschten. Vielleicht gehören Sie ja auch dazu. Aber keine Einwände,
       es gibt viel zu tun. An die Arbeit!
       
       11 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Koalition-CDU/SPD/!6081328
   DIR [2] https://arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de/ueber-uns/nachrichten/++co++c95125f4-0bc4-11ef-875e-ff4067067674
   DIR [3] /Koalitionsvertrag-von-Union-und-SPD/!6081312
   DIR [4] https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/tabIV46.pdf
   DIR [5] /Koalitionsvertrag-Halbgar-und-vage/!6077731
   DIR [6] https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/der-steuersatz-der-superreichen/
   DIR [7] https://www.boeckler.de/pdf/impuls_2025_06_gesamt.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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