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       # taz.de -- Ungarn schränkt Geschlechtervielfalt ein: Bunter Dorn in Orbáns Auge
       
       > Viktor Orbán zementiert das Zwei-Geschlechter-Dogma in der ungarischen
       > Verfassung. Doch die Verschärfungen reichen über die LGBTIQ+-Community
       > hinaus.
       
   IMG Bild: Polizeibeamte blockieren Protestierende während einer LGBTQ+ Demonstration auf der Kettenbrücke in Budapest, 14. April 2025
       
       Bis zuletzt wurde dagegen protestiert, doch es half nichts:
       Montagnachmittag machte Ungarn einen weiteren großen Schritt Richtung
       Autoritarismus. Die Regierungsmehrheit von Viktor Orbán ließ die Verfassung
       ändern, zum mittlerweile 15. Mal seit seinem Amtsantritt 2010. Dabei ging
       es dem ungarischen Premier aber nicht um die schlechte Wirtschaftslage, die
       massiven Probleme im Gesundheits- und Schulwesen oder die himmelschreiende
       Korruption.
       
       Nein, es geht um Orbáns Leibthema LGBTIQ+. Schon bisher waren Bücher wie
       Harry Potter oder Ausstellungen wie [1][World Press Photo] nur Erwachsenen
       zugänglich, zu anstößig sind sie laut Regierung. Schon bisher mussten
       Eltern bei der Geburt ihres Kindes das Geschlecht als Junge oder Mädchen
       festlegen – unabänderlich. Schon bisher durften gleichgeschlechtliche Paare
       keine Kinder adoptieren.
       
       ## Entweder-Oder
       
       Seit Montag schreibt die Verfassung nun auch vor, dass es in Ungarn nur
       noch zwei Geschlechter gibt. Es sei die Pflicht des Staates, den
       rechtlichen Schutz dieser „natürlichen Ordnung“ zu garantieren. „Das
       Geburtsgeschlecht eines Menschen ist die biologische Grundausstattung, die
       – in Übereinstimmung mit der Schöpfungsordnung – entweder männlich oder
       weiblich sein kann“, heißt es im Gesetzestext. Damit wurde mit einem
       Federstreich die Existenz von Transgender- und intersexuellen Personen
       geleugnet. Welche Folgen diese Änderung in der Praxis hat, lässt sich noch
       nicht abschätzen.
       
       Ab sofort gilt der „Kinderschutz“ damit als oberstes Ziel in der
       Verfassung. Der entsprechende Zusatzartikel besagt, dass das Recht des
       Kindes auf moralische, körperliche und geistige Entwicklung Vorrang vor
       fast allen anderen Rechten hat, einschließlich des Rechts, sich friedlich
       zu versammeln.
       
       Dies ermöglicht es der Regierung, [2][das kürzlich beschlossene Verbot von
       Pride-Paraden] durchzusetzen. Polizei und Gerichte können sich nun darauf
       berufen, wenn sie eine LGBTIQ-Versammlung auflösen oder – sie können sie
       gar nicht erst zulassen.
       
       ## Gesetz kann willkürlich ausgelegt werden
       
       Doch das ist nicht alles. Die jüngsten Verschärfungen sind kaum zu
       überschätzen, denn sie reichen weit über die LGBTIQ+ -Gemeinde hinaus. NGOs
       warnen, dass das Gesetz willkürlich ausgelegt werden kann und im Grunde
       alle Proteste damit untersagt werden können.
       
       Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte würde eine solche
       Einschränkung der Versammlungsfreiheit wohl nicht bestehen – diesen
       anzurufen dauert aber Jahre, das weiß Orbán. Und selbst dann könnte er die
       dortige Entscheidung ignorieren.
       
       Die Verfassungsänderung darf deshalb als ein weiterer Versuch Orbáns
       interpretiert werden, von den mannigfaltigen Problemen Ungarns abzulenken.
       Zuvor hatte er dazu bereits den [3][israelischen Ministerpräsidenten
       Benjamin Netanjahu], gegen den ein internationaler Haftbefehl aussteht,
       nach Budapest eingeladen.
       
       Angesichts des rasanten Aufstiegs seines Herausforderers Péter Magyar wird
       Orbán zunehmend nervös, denn Magyar führt bereits die meisten Umfragen an.
       Bereits in einem Jahr finden Parlamentswahlen statt, für Orbán zweifellos
       die heikelsten.
       
       ## Verbot könnte Zivilgesellschaft weiter mobilisieren
       
       Für Andrea Pető, Politologin an der CEU Wien, geht es Orbán vor allem
       darum, Angst und Ausgrenzung zu schüren. Mit den Änderungen im
       Verfassungsrang erweitere er zudem polizeiliche Befugnisse und baut laut
       Pető auch einem Regierungswechsel vor: Dadurch will er es einer allfälligen
       neuen Regierung so schwer wie möglich machen, die Fidesz-Politik
       rückabzuwickeln – denn eine Verfassungsmehrheit wird Herausforderer Magyar
       wohl nicht erreichen.
       
       Die ungarische Zivilgesellschaft lässt sich davon bisher nicht
       einschüchtern. „Mit diesem Verbot könnte die Regierung jene erst recht zur
       Teilnahme bewegen, die zuvor noch gezögert haben“, vermutet Pető sogar.
       
       Bereits am Sonntag hatten Tausende in Budapest protestiert. Vor der
       Parlamentsabstimmung am Montag versuchten Oppositionspolitiker und andere
       Demonstranten dann, die Einfahrt zu einem der Parkhäuser des Parlaments zu
       blockieren. Die Polizei entfernte sie gewaltsam. Auch zu neuerlichen
       Protesten wurde bereits aufgerufen. Die Pride-Parade soll wie geplant am
       28. Juni stattfinden – womöglich größer denn je.
       
       15 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Florian Bayer
       
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