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       # taz.de -- Wissenschaftlerin über Abschied und Tod: „Uns fehlt Raum für Gespräche über existentielle Themen“
       
       > Wenn es um das Lebensende geht, gibt es oft eine große Sprachlosigkeit,
       > sagt Martina Wachtlin. Ihr Erzählsalon in Oldenburg will daran etwas
       > ändern.
       
   IMG Bild: Ein möglicher Ort der Trauer: Gräber auf dem Friedhof Ohlsdorf
       
       taz: Frau Wachtlin, warum tun wir uns so schwer damit, offen über Sterben
       und Trauer zu sprechen? 
       
       Martina Wachtlin: Das hat viel mit unserer kulturellen und
       gesellschaftlichen Prägung zu tun. In der Vergangenheit gab es klare
       Rituale und Traditionen, wie in Dorfgemeinschaften, wo das Sterben sichtbar
       und gemeinschaftlich begleitet wurde. Diese [1][gemeinschaftlichen Formen
       des Abschieds] sind uns unter anderem durch Urbanisierung,
       Individualisierung und den Einfluss kapitalistischer Strukturen verloren
       gegangen. Heute leben viele Menschen in loseren sozialen Gefügen. Der Fokus
       auf Leistung und Arbeit lässt kaum noch Raum für die Pflege sozialer
       Beziehungen, geschweige denn für Gespräche über existenzielle Themen wie
       [2][Tod] und [3][Trauer]. Es braucht sehr viel bewusste Entscheidung, um
       sich solchen Gesprächen zu widmen.
       
       taz: Gibt es eine Erkenntnis, die Ihre eigene Sicht auf Abschied und Trost
       verändert hat?
       
       Wachtlin: Ja, ich denke oft an meine Interviews mit Menschen, die mit einer
       schweren Diagnose leben. Viele von ihnen begannen ihr Leben anders zu
       betrachten. Es ging nicht mehr um Leistung oder Status, sondern um das
       Jetzt, um Beziehungen. Besonders Männer sagten mir, dass sie es bereuen,
       nicht mehr Zeit mit ihrer Familie verbracht zu haben. Jetzt genießen sie
       die Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern – das rückt alles in ein neues
       Licht. Diese Erkenntnis, wie sehr Beziehungen und Gegenwärtigkeit zählen,
       hat auch meine eigene Sicht auf Abschied und Trost verändert.
       
       taz: Inwiefern kann das Teilen persönlicher Geschichten über Trauer und
       Fürsorge heilsam sein?
       
       Wachtlin: Ich habe in meiner wissenschaftlichen Arbeit viel
       biografisch-narrative Interviews geführt – mit Menschen, die chronisch
       krank sind oder mit einer potenziell lebensbedrohlichen Diagnose leben.
       Dabei fiel mir auf, dass es oft eine große Sprachlosigkeit gibt, wenn es um
       das Lebensende geht. Hier sehe ich das Heilsame des Erzählens: Wenn
       Menschen beginnen, ihre Geschichten zu teilen, entsteht Raum – auch für
       Gefühle, für Reflexion, für Verbindung. Oft rücken durch diese Erzählungen
       Beziehungen wieder ins Zentrum. Es geht darum, was wirklich zählt: Nähe,
       Empathie, Zugehörigkeit, gemeinsame Zeit. Das kann sehr stärkend wirken –
       sowohl für die Erzählenden als auch für die Zuhörenden.
       
       taz: Gehen kulturelle Gruppen unterschiedlich damit um? 
       
       Wachtlin: Ich habe aus meiner Beobachtung festgestellt, dass verschiedene
       kulturelle Gruppen unterschiedliche Rituale und Umgangsweisen haben, was
       Trauer und Pflege betrifft. Zum Beispiel habe ich mit [4][Sinti und Roma]
       gearbeitet oder mit [5][Jesiden]. In diesen Gemeinschaften gibt es
       teilweise noch sehr feste Rituale, wie man mit Tod und Pflege umgeht. Das
       Pflege-Thema ist oft eine typische Frauenarbeit. Gleichzeitig ist auch der
       Fachliteratur zu entnehmen, dass in der türkischen Community immer weniger
       Kinder bereit sind, ihre Eltern traditionell zu Hause zu pflegen – auch
       wenn sie es vielleicht möchten. Das hat mit dem kulturellen Wandel zu tun,
       aber es gibt auch immer mehr ambulante Pflegedienste, die speziell auf die
       Bedürfnisse dieser Community eingehen.
       
       taz: Warum braucht es Ihrer Meinung nach geschützte Räume für Gespräche
       über Abschied und das Lebensende?
       
       Wachtlin: Weil wir im Alltag kaum noch Orte haben, an denen wir offen über
       [6][Sterben], Trauer und Fürsorge sprechen können. Diese Themen sind oft
       mit Unsicherheit, Ohnmacht oder sogar Angst verbunden. [7][Ein geschützter
       Raum wie ein Erzählsalon] bietet einen Rahmen, in dem Menschen einander
       zuhören, sich austauschen, ohne bewertet zu werden. Es geht nicht um
       Therapie oder Lösungsvorschläge, sondern um das Teilen – um Präsenz. Das
       ist in unserer zunehmend fragmentierten Gesellschaft unglaublich wertvoll.
       
       21 Apr 2025
       
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