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       # taz.de -- Ausstellung im Hamburger Bahnhof Berlin: Von einer Realität in die andere
       
       > Auf der Flucht vor Algorithmen und ihrer Doppelgängerin: Die Fahrerin
       > einer Liefer-App steht im Mittelpunkt von Ayoung Kims Schau „Many Worlds
       > Over“.
       
   IMG Bild: Ayoung Kim, „Ghost Dancers B“, 2022 Courtesy Ayoung Kim&Gallery Hyundai / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin
       
       Immer wieder steht man in der Ausstellung „Many Worlds Over“ von Ayoung Kim
       plötzlich sich selbst gegenüber. Die südkoreanische Künstlerin ließ die
       vier Räume, die ihr im [1][Hamburger Bahnhof] für ihre erste
       Solo-Ausstellung in Deutschland zur Verfügung stehen, zu einem
       bildschirmblauen Irrgarten umbauen, in dem Spiegel, glänzend reflektierende
       Flächen, Monitore und Videoprojektionen nicht nur die Raumwahrnehmung
       verwirren und die ganze Ausstellung viel größer erscheinen lassen, als sie
       eigentlich ist.
       
       Mehr als einmal will man durch einen scheinbaren Durchgang in den nächsten
       Raum gehen, der sich letztlich nur als Reflexion des Raums erweist, in dem
       man sich gerade befindet.
       
       So materialisiert die 46-jährige Künstlerin im physischen Raum, was in
       ihrem Werkzyklus „Delivery Dancer“ zunächst als digitales Flackern
       existiert: Doppelgänger, Paralleluniversen, alternative Wirklichkeiten.
       
       In der Arbeit beschäftigen sich zwei teilweise computergenerierte Videos,
       ein Computerspiel und eine Smartphone-App – umgeben von einer Reihe von
       Installationen und Wandarbeiten – mit der Lieferfahrerin Ernst Mo (Jang
       Seo-kyung). Diese gleitet in den beiden jeweils fast halbstündigen Videos
       mit dem Motorrad durch ein hypermodernes Seoul, um mysteriöse Koffer
       zuzustellen.
       
       ## Von einer KI-gesteuerte App durch die Stadt gescheucht
       
       Was genau sie da in gesichtslosen High-Tech-Verwaltungsgebäuden in einer
       schwarzen Kunststoffbox abliefert, wird nie so ganz klar. Blutproben?
       Geheimdokumente? Datenträger? Aber das ist auch nicht so wichtig, denn
       eigentlich geht es in der Arbeit um die KI-gesteuerte App „Dancemaster“,
       die Ernst Mo durch die Großstadt dirigiert wie einst das Master Control
       Program die virtuellen Motorradfahrer auf ihren Light Cycles im
       Science-Fiction-Klassiker „Tron“, zu dem die visuelle Gestaltung von Kims
       Arbeit mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit hat. (Auch andere SciFi- und
       Anime-Filme wie „Matrix“, „Speed Racer“ oder „Ghost in the Shell“ haben
       hier offensichtlich Pate gestanden.)
       
       Der „Dancemaster“ zwiebelt seine „Dancer“, also die Lieferanten, zu immer
       neuen Höchstleistungen und quengelt automatisiert bei Verspätungen oder
       Umwegen. „Your delivery time is running late. Please hurry!“ ermahnt eine
       App auf einem Smartphone, das in der Installation aus der Wand ragt. Auch
       im Videospiel, in dem man einen Liefer-„Dancer“ durch verschiedene
       Gamelevel steuert, geht sofort der Alarm los, wenn man vom kürzesten Weg
       zwischen zwei Punkten abkommt.
       
       Der permanenten Überwachung und dem algorithmischen Gedrängel entzieht sich
       Ernst Mo immer wieder durch das Abtauchen in „Portals“, die sie von einer
       Realität in eine andere entfliehen lassen. Ein Glitch-Geflacker, und
       plötzlich findet sich unsere Heldin in einer anderen Version ihrer Welt
       wieder, wo sie immer wieder auf ihre Doppelgängerin En Storm trifft,
       –gleichzeitig ein Anagramm ihres eigenen Namens wie auch des Wortes
       „Monster“.
       
       Kuratorin Charlotte Knaup versucht dieses Szenario im Katalog als eine
       Kritik an der Ausbeutung im Plattform-Kapitalismus zu interpretieren: „Die
       Gamifizierung der Gig Economy in ‚Delivery Dancer‘ kann als Extrapolation
       von Liefer-Apps wie UberEats gelesen werden, die auch in Berlin und in
       vielen anderen Städten auf der Welt an Popularität gewonnen haben.“
       
       ## Fernab der Realität von Lieferfahrern
       
       Doch die Fahrer, die inzwischen rund um den Globus für Hungerlöhne Junk
       Food durch die Metropolen bugsieren, sind keine glamourösen Kreaturen mit
       Modelqualitäten, die mit schicken Motorrädern durch klinisch saubere,
       beleuchtete Tunnel gleiten und dabei farbige Speedlines hinter sich
       zurücklassen, wie in Ayoung Kims Cinematic Universe.
       
       Es sind die Ärmsten der Armen, oft Elendsmigranten, die von ihren
       Auftraggebern und von ihren Kunden nicht selten wie der letzte Dreck
       behandelt werden. Für diese Jammervollen tun sich auch keine flackernden
       Portale auf, auf deren anderen Seite sie sich beim Tête-à-Tête mit sich
       selbst verlustieren können.
       
       Auch dieses Hin und Her zwischen verschiedenen Realitätsoptionen wird im
       Katalog als eine Art subversiver Akt dargestellt: „In gleichem Zuge, indem
       (Kim) andere mögliche Welten in endloser Zahl einführt und sie in die real
       gegebene einsickern lässt, stellt sie die Unvermeidlichkeit unserer
       modernen kapitalistischen Logik infrage: Wenn unendlich viele andere Welten
       möglich sind, kann die Logik, nach der unsere Realität funktioniert,
       unmöglich die einzige sein, auf deren Grundlage wir existieren können.“
       
       Tatsächlich sind die verschiedenen Realitäten, zwischen denen Ernst Mo hin-
       und herswitcht, allerdings von trostloser Ähnlichkeit. Man vergleiche das
       nur mit den unendlichen Möglichkeiten des Multiversums, in dem sich
       [2][Michelle Yeoh in dem Kultfilm „Everything Everywhere All At Once“]
       wiederfindet. Da kann man Besitzerin einer Wäscherei sein oder
       Kung-Fu-Meisterin oder Chefköchin oder Opernsängerin oder ein Stein oder
       jemand, der statt Fingern Würstchen hat, und die Polizei löst sich eine
       Realität weiter einfach in Konfetti auf.
       
       In den vielen Welten von Ayoung Kim knallt man eher – wie in dem Song
       „Always crashing in the same car“ von [3][David Bowie] – immer wieder in
       das gleiche Auto – und dann ist das sogar noch das eigene!
       
       17 Apr 2025
       
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