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       # taz.de -- Kriege und Völkerrecht: Kollektivbestrafung als neue Normalität
       
       > In Kriegsgebieten wird das Völkerrecht gebrochen. Früher haben Täter ihre
       > Taten noch bestritten, heute rechtfertigen sie sie als
       > Selbstverteidigung.
       
   IMG Bild: Am Ende bleibt Trauer, Verzweiflung und Tod, immer mehr davon gezielt gegen unbeteiligte Zivilist*innen
       
       Sumy, Ukraine, Palmsonntag, 13. April. Am Vormittag fliegt Russland hier
       den bis dahin tödlichsten Angriff auf die Ukraine in diesem Jahr. Eine
       Präzisionsrakete des Typs Iskander trifft ein ziviles Gebäude. Als
       Nothelfer herbeieilen, explodiert über ihnen eine zweite solche Rakete,
       diesmal mit Streumunition. Mindestens 35 Tote und 120 Verletzte werden am
       Ende gezählt; die Straßen sind belebt, es finden gerade Gottesdienste
       statt.
       
       Zamzam, Sudan, Dienstag vor Ostern. [1][US-Wissenschaftler veröffentlichen
       Satellitenaufnahmen] des größten Flüchtlingslagers von Sudan, in dem
       Hunderttausende Menschen leben, geflohen vor dem Terror der RSF-Miliz in
       Darfur. Am Palmsonntag hat der Terror sie eingeholt. Die RSF hat Zamzam
       erobert und großflächig in Brand gesteckt, wie Satellitenbilder zeigen.
       Viele Menschen werden getötet, Hunderttausende fliehen in die Wüste, ohne
       Nahrung, ohne Wasser.
       
       Gaza, 16. April. Ein israelischer Luftangriff am frühen Morgen tötet die
       renommierte palästinensische Fotografin [2][Fatima Hassouna] in ihrem
       Elternhaus in Gaza-Stadt. Am Vortag erst war der Dokumentarfilm [3][„Put
       your soul on your hand and walk“] der exilierten iranischen Regisseurin
       Sepideh Farsi über Hassounas Arbeit in Gaza für das nächste Filmfestival in
       Cannes ausgewählt worden. Nun ist die Heldin des Films, ohnehin die einzige
       Überlebende in ihrer Familie, tot, zusammen mit zehn weiteren Menschen in
       dem Haus.
       
       Sumy, Zamzam, Gaza: In allen Fällen ist die internationale Reaktion –
       nichts. Es gibt vereinzelte Äußerungen des Entsetzens, aber sonst: nichts.
       Gegen den russischen Raketenterror: nichts. Gegen das Wüten der
       sudanesischen Kriegsführer: nichts. Gegen die israelischen Angriffe auf
       Zivilisten: nichts. Man könnte einwenden: Was der Rest der Welt sagt, ist
       egal. Aber für die Opfer erscheint es so, als seien sie es, die egal sind.
       Als seien sie: nichts.
       
       Diese Karwoche 2025 bündelt wie in einem Brennglas die neue, furchtbare
       Weltordnung des Jahres 2025. Systematische Angriffe auf Zivilpersonen sind
       schon lange Bestandteil aggressiver Kriegsführung. Neu ist dieses Jahr,
       dass dies als Normalität erscheint, nicht als Ausnahme, und dass jenseits
       der einzelnen Angriffe die kollektive Bestrafung ganzer Bevölkerungen
       dafür, dass sie überhaupt existieren, offen akzeptiert wird. US-Präsident
       Trump verhandelt mit Russlands Präsident Putin über die Zerschlagung der
       Ukraine, während russische Politiker und TV-Moderatoren über Atombomben
       auf Westeuropa diskutieren und Scharfmacher Dmitri Medwedjew kurz vor der
       Osterzeit [4][den Bibelspruch aus dem Buch der Offenbarung verbreitet]:
       „Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“
       
       Der „Tag des Zorns“ ist in der christlichen Überlieferung der Eröffnungstag
       des Jüngsten Gerichts, an dem laut dem katholischen Requiem sich „die
       zeitliche Welt in Asche auflöst“. Im Nahostkonflikt dienen „Tage des Zorns“
       traditionell der Mobilisierung für die Vernichtung Israels. Seit dem
       entsprechenden Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 propagiert die
       israelische Rechte ihrerseits die Vernichtung der Palästinenser in Gaza,
       offen unterstützt etwa von Trump. 30 Prozent des Gazastreifens seien
       inzwischen von Palästinensern „geräumt“, lobte am Aschermittwoch Israels
       Verteidigungsminister Israel Katz.
       
       ## Klare Brüche des Völkerrechts
       
       Seine Regierung bombardiert den Rest des Gebiets weiter und blockiert seit
       2. März jegliche humanitäre Hilfe für Gaza, auch Lebensmittel und
       Medikamente, komplett. „Israels Politik ist klar: Keine humanitäre Hilfe
       wird nach Gaza hineinkommen“, [5][sagt Katz]. Vor einem Jahr stießen
       Gaza-Hilfsblockaden noch auf internationalen Protest. Heute sieht man
       zu.
       
       Alle diese Akte gegen Zivilbevölkerungen sind klare Brüche des humanitären
       Völkerrechts. Früher haben die Täter solche Taten gern geleugnet. Heute
       rechtfertigen sie sie: Wir haben militärische Ziele angegriffen, heißt es.
       Oder: Wir handeln in Selbstverteidigung, wir sind die Opfer! Man vernichtet
       einen kollektiven Gegner, weil dessen nackte Existenz angeblich die eigene
       bedroht. Das humanitäre Völkerrecht gebietet eigentlich, im Krieg zwischen
       Kombattanten und Zivilpersonen präzise zu unterscheiden. In diesem Jahr
       wird diese Unterscheidung nicht nur ignoriert, sie wird für gegenstandslos
       erklärt.
       
       Das heißt nicht nur, dass niemand mehr sicher ist. Es heißt auch, dass sich
       niemand mehr in der Hoffnung wiegen kann, bei eigenem Nichtstun in Ruhe
       gelassen zu werden. Der Terror kann jeden treffen, sobald ein Kriegsführer
       der Gruppe, der man selbst angehört, zum Feind erklärt wird. Neutralität
       ist da keine Option. Solidarität mit denen, die der eigenen Vernichtung
       trotzen, ist in diesem finsteren Jahr 2025 die einzige Realpolitik.
       
       20 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://x.com/HRL_YaleSPH/status/1911770799263859183
   DIR [2] https://www.instagram.com/fatma_hassona2/
   DIR [3] https://www.film-documentaire.fr/4DACTION/w_fiche_film/75447_0
   DIR [4] https://x.com/MedvedevRussiaE/status/1909564882866839983
   DIR [5] https://www.theguardian.com/world/2025/apr/16/no-humanitarian-aid-gaza-israeli-minister-israel-katz-hamas
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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