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       # taz.de -- Tagebuch aus Armenien: Wie der High-Heel-Dance nach Jerewan kam
       
       > Armenien ändert sich. Nicht zuletzt durch Russ:innen, die einwandern.
       > Plötzlich gibt es Hundesalons, Skilifts und einen sehr merkwürdigen Tanz.
       
   IMG Bild: High Heels warten darauf, bei einem Wettrennen ihre Modernität zu beweisen
       
       Armenier:innen werden in Russland oft abfällig als „Kreuz“ bezeichnet,
       sie gelten als „schwarzarschig“. Dennoch ist [1][Russland] seit Jahrzehnten
       das beliebteste Ziel armenischer Migrant:innen. Schätzungen zufolge leben
       rund 1,5 Millionen Armenier:innen in Russland. Das ist die Hälfte der
       in Armenien lebenden Bevölkerung.
       
       Nach dem Beginn des russischen [2][Kriegs in der Ukraine] hat sich dieses
       Migrationsmuster jedoch gewandelt, und zwar dramatisch. Man nennt es
       „weißen Strom“. Es ist das Phänomen, dass plötzlich auch Russ:innen nach
       [3][Armenien] kommen. Das veränderte nicht nur die wirtschaftliche Lage
       Armeniens, sondern auch sein kulturelles Gesicht. Das fängt bei den
       Speisekarten in Restaurants an, auf denen nun „slawische“ Gerichte stehen.
       Das zeigt sich auch im Unterhaltungs- und Sportbusiness. Und es geht hin zu
       Aktivitäten, die für die armenische Gesellschaft bis dahin völlig unbekannt
       waren.
       
       Die 38-jährige Lilit aus [4][Jerewan] versuchte vor drei Jahren, mit Hilfe
       eines Psychologen die Folgen einer postpartalen Depression zu überwinden.
       Das Singen im Kirchenchor war ihr einziger Trost geworden, mit dem sie
       versuchte, ihre Familie zu retten. In einer Therapiesitzung riet die
       Psychologin Lilit zum Tanzen, weil sich so körperliche Verspannungen lösen
       können.
       
       Als Lilit in Jerewan nach einer Tanzgruppe in ihrer Nähe suchte, stieß sie
       auf eine interessante Anzeige. Ein neu eröffnetes Tanzstudio mit einer
       russischen Choreografin suchte 12 Frauen für etwas ganz Neues. Seltsam war
       nicht, dass getanzt wurde, sondern wie: „[5][High Heels Dance]“. Für
       Armenier:innen ist das ein kompett neues Phänomen. Es ist ein Tanz, der
       dem Striptease sehr ähnlich ist: sinnlich und gewagt, geschmeidig und
       ästhetisch – nur dass man sich hier nicht auszieht. Lilit erzählt, dass ihr
       schon der Gedanke an diesen Tanz zu gewagt erschien. Nicht einmal ihrem
       Mann mochte sie davon erzählen. Aber sie beschloss, es zu versuchen.
       
       In den vergangenen drei Jahren haben russische Migrant:innen in
       Armeniens Hauptstadt Jerewan sieben High-Heels-Danceclubs eröffnet. Lilit
       sagt, sie stünden nicht nur für eine neue Tanzkultur, sondern auch für eine
       neue Denkweise: [6][Armenische Frauen] müssten lockerer und flexibler
       werden, sie müssten das Leben mutiger angehen – und auch ab und zu mal
       freundlicher sein.
       
       Es ist nicht nur das Tanzen auf High Heels, das die Russ:innen
       mitgebracht haben. Während ich diesen Text schreibe, kommt meine
       Schwiegermutter mit unserem Hund William nach Hause, der an diesem Tag
       baden gegangen war. Es stellt sich heraus, dass sein Friseur ebenfalls ein
       Russe ist. Tierpflegesalons, Tierkliniken und sogar ein Hotel für Hunde
       gibt es neuerdings. Auch das sind Geschäftsideen russischer Migrant:innen,
       die in Armenien verwirklicht werden.
       
       Davon gibt es noch mehr: Die wenigen Motorradschulen, die erst vor drei bis
       vier Jahren schließen mussten, sind wieder geöffnet. Russische
       Migrant:innenen melden sich an und lernen zu fahren.
       
       Oder Skilaufen. Obwohl Armenien ein Gebirgsland ist, sind die Winter hier
       sehr mild, und es schneit nicht so oft. Wer [7][Skifahren] will, begab sich
       bislang meist ins benachbarte Georgien. Doch in diesem Jahr wurden in
       Armenien große Skigebiete mit Pisten und Lifts eröffnet. Auch hier besteht
       die überwiegende Mehrheit der Kund:innen aus russischen Migrant:innen.
       
       Die Armenier haben ein schlechtes Sprichwort: „Wo es Brot gibt, gibt es
       auch ein Dach über dem Kopf.“ Dieses Sprichwort, das den Menschen als rein
       biologisches Wesen beschreibt, trifft hier zu. Nach dem russischen Krieg in
       der Ukraine haben russische Migrant:innen in Armenien sprichwörtlich ihr
       eigenes Brot gebacken.
       
       Trotz Tod, Vertreibung, Hass und der unerträglichen Katastrophe in der
       Ukraine kann ein Krieg manchmal auch solche Spuren hinterlassen.
       
       [8][Sona Martirosyan] ist Journalistin und lebt in Jerewan (Armenien). Sie
       war Teilnehmerin eines [9][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung] 
       
       Aus dem Armenischen von [10][Tigran Petrosyan]. 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [11][taz Panter Stiftung].
       
       4 Apr 2025
       
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